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In Klaras Wohnzimmer war es mucksmäuschenstill. Keiner sagte ein Wort. Über Luisas Wangen liefen dicke Tränen. Theo starrte auf den Boden. Phanuel war auch ganz bedrückt und der Elohim wartete ab, was als nächstes geschah. Er wusste, dass ab nun die Dinge ihren Lauf nehmen würden – so oder so.
„Müssen wir das sofort entscheiden?“, fragte Luisa. Phanuel schüttelte den Kopf. „Ihr habt bis morgen früh Zeit, dann brauchen wir aber eine Entscheidung. Ihr müsst jetzt nicht mehr in den Sender zurückgehen. Geht hinüber in die Werkstatt oder in Martins Wohnung und besprecht euch.
„Wenn wir Menschen werden, werden wir dann nie wieder Engel sein?“, fragte Theo. „Ihr werdet das Leben eines Menschen leben, bis zu dessen Tod und nachtodlich werdet ihr wieder Engel sein. Die Menschen sind nach ihrem Tod immer noch Menschen, aber bei euch wäre es etwas Anderes. Ihr werdet wieder zu Engeln.“
„Und die anderen zehn Engel? Werden die gar nicht gefragt?“, fragte Luisa. „Sie haben schon zugestimmt, wissen aber, dass es von euch abhängt, ob diese Mission durchgeführt werden kann“, sagte Phanuel. „Wieso hängt es von uns ab?“, fragte Theo. „Weil die Kraft des Anfangs bei euch liegt. In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne… das ist aus einem Gedicht von Hermann Hesse. Das ist bei den Menschen sehr beliebt – weil es wahr ist“, sagte er. Deshalb ist es wichtig, dass ihr beiden bei dieser Mission die Führung übernehmt. Für uns Engel ist ein Menschenleben nicht lang. Ich möchte euch nicht überreden, denn ihr müsst es – wie die Menschen – aus freiem Willen selbst entscheiden. Das könnt ihr, solange ihr hier als Menschen seid. Deshalb überlegt es euch gut.
„Was ist, wenn wir uns dagegen entscheiden?“, fragte Luisa. Der Elohim schwieg eine Weile. „Dann müssen die Menschen nach dem Dreikönigstag alleine zurechtkommen“, sagte er. „Und das werden sie nicht schaffen?“, fragte Luisa. „Vermutlich nicht“, antwortete der Elohim.
Danach war das Gespräch beendet. Luisa und Theo wussten jetzt alles, was sie wissen mussten. Es würde auf keinen Fall eine leichte Entscheidung werden. „Nun geht hinüber und beratschlagt euch“, fügte der Elohim noch hinzu und es war offensichtlich, dass er nichts mehr dazu sagen würde.
Luisa und Theo gingen hinüber in die Werkstatt. In einer Ecke war ein gemütliches Sofa und ein Sitzsack. Dort nahmen sie Platz und schwiegen lange. Jeder der beiden Jung-Engel hing seinen Gedanken nach. „Kannst du dir vorstellen, dass wir uns damit einverstanden erklären?“, fragte Luisa zu Theo gewandt. „Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, aber ich kann mir genauso wenig vorstellen, dass wir ablehnen und dann von unserer Welt aus beobachten, wie die Sache schiefgeht. Ich fürchte, das würden wir noch viel mehr bereuen“, sagte Theo.
Luisa schwieg weiter. Sie wollte unbedingt zurück in die Welt der Engel. Dort hatte sie sich wohl gefühlt. Natürlich gefiel es ihr auch auf der Erde, aber nur unter der Bedingung, dass dies nur ein kurzer Ausflug war. Wenn sie sich nun vorstellte, dass sie hierbleiben musste, dann war sie damit überhaupt nicht glücklich. Es erschien ihr nur traurig. „Wie werden wir dann leben?“, fragte sie. „Werden wir eine Familie haben? Oder sind wir dann ganz auf uns alleine gestellt? Werden uns die Engel noch helfen? Werden wir uns daran erinnern, dass wir eigentlich Engel sind?“
Theo zuckte bei allen Fragen mit den Schultern. „So wie ich es verstanden habe, werden wir uns nicht erinnern. Wir werden Menschen sein – bis zu unserem menschlichen Tod. Danach sind wir wieder Engel. Und vermutlich werden wir eine Familie bekommen und die anderen auch. Oder zumindest so etwas Ähnliches. Ich denke schon, dass sie für uns sorgen, sodass wir einen guten Start haben werden. Aber ich kann mich auch nicht mit dem Gedanken anfreunden. Mir erscheint das Ganze wie ein Alptraum. Ich möchte einfach aufwachen und wieder zuhause in der Engelwelt sein“, sagte Theo und nun begann er zu weinen.
Luisa nahm ein Buch in die Hand, das Martin auf dem Sofa liegengelassen hatte und begann darin zu lesen. „Hier ist das Gedicht, aus dem der Elohim vorhin zitiert hatte“, sagte sie. Theo schien das nicht weiter zu interessieren. Aber Luisa begann zu lesen:
Stufen von Hermann Hesse
„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Als sie geendet hatte, schauten sich die beiden an. „Irgendwie ist das schon ein komischer Zufall, dass das hier liegt“, sagte Luisa nachdenklich und las das Gedicht noch einmal. „Wie wenn es für uns geschrieben wäre“, sagte Theo.
„Lass uns eine Nacht darüber schlafen“, sagte Luisa. „Ich fürchte, wir müssen das tun.“
Und wie es weitergeht, werdet Ihr morgen erfahren. Luisa und Theo müssen unbedingt eine Nacht darüber schlafen, bevor sie sich entscheiden.
Ich wünsche auch Euch eine gute Nacht und schlaft gut!
Manou