Der nächste Morgen war schnell da. Luisahim und Theorahel waren schrecklich aufgeregt. Immerhin würden sie heute gemeinsam mit den Erzengeln auf die Erde reisen. Luisahim war sich nicht sicher, ob sie sich mehr freute, oder ob sie mehr Angst hatte. Doch sie entschloss sich, dass die Freude überwog. Es war die aufregendste Vorweihnachtszeit, die sie jemals erlebt hatte. Theorahel stimmte ihr zu. Ja, das war es wohl wirklich. Sie hatten eine ganz besondere Mission und wollten diese gut erfüllen.
Die Erzengel standen schon beisammen als sie in die große Halle kamen. Offenbar hielten sie noch eine Besprechung ab. „Ah, da seid ihr ja“, sagte Phanuel, als er sie sah. „Wir haben noch ein paar Fragen an euch“ sagte Michael. Luisahim und Theorahel waren überrascht. Normalerweise hatten sie, die Jung-Engel, Fragen an die Erzengel, nicht umgekehrt. Aber es fühlte sich richtig gut an. „Wie ist das mit dem Essen? Wir werden ja essen müssen, wenn wir so lange als Menschen unterwegs sind“, sagte Michael. „Ja, das ist ganz lustig. Manche Dinge schmecken richtig süß im Mund und andere prickeln so seltsam. Dazu sagen die Menschen, dass es scharf sei. Manche Dinge sind auch ganz weich im Mund und andere sind eher krümelig und man muss sie gut kauen. Aber essen macht richtig Spaß“, antwortete Theorahel. Die Erzengel nickten. Ein paar von ihnen hatten das schon erlebt, aber es war schon sehr lange her und sie konnten sich nicht mehr richtig daran erinnern.
Gut, dann werden wir noch rasch schauen, ob die Großen soweit fertig sind, dass sie uns hinunterschicken können. Alles war vorbereitet. War es vorher schon eine recht spannende Mission, als nur Luisahim und Theorahel auf die Erde geschickt wurden, so war es jetzt ein riesengroßes Unterfangen und sorgte auch in der Engelwelt für Aufsehen. Zumal keiner wusste, wann sie wieder zurückkommen und was ihnen als Menschen alles widerfahren würde. Aber es war ein beruhigender Gedanke, dass die großen Engel ein wachsames Auge auf sie haben würden, auch wenn sie nicht in jeder Situation helfen konnten. Sie mussten also insgesamt alle sehr wachsam sein und auch selbst gut auf sich aufpassen.
Raphael, Phanuel, Michael, Uriel und Gabriel stellten sich mit Luisahim und Theorahel im Kreis auf. „Eine Frage habe ich noch“, sagte Luisahim. „Werdet ihr in der Menschenwelt die gleichen Namen haben wie hier?“ Michael lachte. „Darüber haben wir auch schon nachgedacht. Wir Erzengel können keine anderen Namen annehmen, weil wir mit diesen Namen ganz eng verbunden sind. Michael, Raphael und Gabriel sind ja auch in der Menschenwelt gebräuchlich. Die Menschen haben ihre Kinder nach uns benannt. Uriel und Phanuel werden eher auffallen, aber heutzutage geben die Menschen ihren Kindern auch sehr ungewöhnliche Namen. Ich denke, wir werden uns dadurch nicht verraten.“ Luisahim und Theorahel nickten. „Seid ihr bereit?“, fragte Uriel. „Ja“, tönte es im Chor. Und die Großen, die jetzt dafür sorgten, dass der Wirbel sie in die Menschenwelt brachte, winkten noch einmal. Dann setzte auch schon der Wirbel ein. Luisa und Theo – wie sie ja in der Menschenwelt hießen, hielten sich ein wenig an den Erzengeln fest, da der Wirbel heute viel stärker war, als an den Tagen zuvor. Immerhin mussten ja auch sieben Engel auf die Erde gebracht werden.
Als der Wirbel nachließ, standen sie direkt wieder in der Wiener Innenstadt und zwar genau an dem Platz an dem Luisa und Theo das erste Mal standen, als sie später Martin getroffen hatten. Luisa und Theo gaben den Erzengeln etwas Zeit sich umzuschauen, bevor sie fragten, was sie jetzt tun würden. Michael sagte: „Gehen wir los. Wir müssen eine Ort finden, an dem viele Menschen sind und dann werden wir es euch erklären.“ Sie gingen eine Weile schweigend durch die Innenstadt, durch breitere und schmalere Gassen. Allerdings gingen sie so schnell, dass kaum Zeit blieb, sich etwas umzuschauen. Aber bald schien der richtige Ort gefunden zu sein. Michael breitete eine dicke Decke aus, die er mitgebracht hatte und bat alle, sich auf diese Decke in einen Kreis zu setzen. Luisa musste ein wenig kichern. Es war schon seltsam, dass mitten in einer Stadt sieben Engel im Kreis saßen, von denen die Menschen glaubten, dass sie ebenfalls Menschen wären.
„So, um uns herum sind viele Menschen. Wir werden uns nun, ohne dass wir schauen, auf die Herzen der Menschen, die um uns herumgehen konzentrieren und goldenes Licht in die Herzen schicken. Wir werden vielleicht keine Veränderung bemerken, aber ich weiß, dass wir damit Erfolg haben können.“ Alle anderen Engel nickten und so saßen sie nun zu siebt im Kreis, schlossen die Augen und erfühlten die Menschen um sie herum. Und wenn sie einen Menschen in ihrer Nähe fühlten, schickten sie goldenes Licht zu seinem Herzen. Und dies machten sie über eine sehr lange Zeit.
Anfangs hatte Luisa tatsächlich das Gefühl, dass sie damit überhaupt nichts veränderten. Die Menschen gingen genauso an ihnen vorbei, wie sie vermutlich an allen anderen Menschen vorbeigingen. Aber dann kam eine Mutter mit drei recht kleinen Kindern, eines davon saß in einem Kinderwagen und die anderen beiden zog sie schimpfend hinter sich her. Alle drei Kinder weinten, die Mutter schimpfte und es fühlte sich an, als ob sie selbst den Tränen nahe war. Und offenbar hatten alle sieben Engel diese Mutter mit ihren Kindern erfühlt und schickten nun all ihr Licht zu ihr und den Kleinen. Und je näher sie kam, desto ruhiger schienen die Kinder zu werden. Als sie an ihnen vorbeigingen, weinte keines der Kinder mehr. Auch die Mutter war ruhiger geworden. Und so schickten sie noch viel mehr von dem goldenen Licht zu den Herzen der Frau und der Kinder.
Luisa und Theo waren beruhigt. Es schien zu wirken. Sie hatten noch nicht diese tiefe Gewissheit, die die Erzengel hatten. Schließlich waren sie noch lange nicht so erfahren. Und genau dies taten sie den ganzen Tag lang. Nach etlichen Stunden begannen sie müde zu werden. Sie standen auf und streckten ihre Beine aus. In der Menschenwelt konnten auch Engelbeine einschlafen und daher fühlten sie sich nun alle müde und ganz steif. „Nun habe ich aber Hunger“, sagte Theo. „Ja, ich glaube, auch mein Bauch könnte nun etwas vertragen“, sagte auch Uriel. Gabriel, Raphael, Phanuel, Michael und Theo nickten. „Dort drüben kann man etwas zu essen kaufen. Haben wir Geld?“, fragte Luisa, die ganz stolz war, dass sie wusste, dass man dazu Geld brauchen würden.
„Ja, wir haben Geld“, sagte Raphael und gemeinsam gingen sie zu dem Laden und holten sich viele leckere Dinge, die sie gemeinsam verspeisten. Es schmeckte sehr gut. Aber nach dem Essen wurden sie alle schrecklich müde und es tat sich die Frage auf, wo sie die Nacht verbringen würden. „Wir könnten zu Martin gehen und fragen, ob wir bei ihm schlafen können“, sagte Luisa. Die Erzengel schüttelten den Kopf. „Nein, da ist die Gefahr viel zu groß, dass wir uns verraten. Wir werden es machen müssen wie die Menschen, wenn sie kein Zuhause haben. Wir suchen uns einen Platz, der windstill ist und schlafen auf dem Boden.“, sagte Raphael. Luisa und Theo erschraken. Martin hatte ihnen viele schlimme Dinge erzählt, die passieren, wenn man auf der Straße schläft. „Ihr müsst keine Angst haben. Uns wird schon nichts passieren. Wir sind Engel. Und auch wenn die Menschen das nicht wissen, so spüren sie doch, dass wir anders sind als sie. Sie werden uns also nichts tun“, sagte Michael.”Außerdem schlafen wir nicht alle zur gleichen Zeit.”
Sie schauten sich um. Es war Dezember und es war schrecklich kalt, es wäre gut, wenn der Platz geschützt wäre. Sie entschieden sich, in einer U-Bahn Passage zu schlafen. Gemeinsam suchten sie einen passenden Ort und breiteten dort ein paar Decken aus. „Wir machen es so, zuerst schlafen Luisa, Theo, Uriel und Raphael. Michael, Phanuel und ich bleiben wach und wir setzen unsere Arbeit hier fort. Hier sind auch nachts viele Menschen unterwegs. Wenn ihr ausgeschlafen habt, wechseln wir. Dann arbeitet ihr weiter und wir schlafen“, sagte Gabriel. Luisa und Theo waren sehr müde. Uriel und Raphael schienen auch nichts dagegen zu haben, eine Runde zu schlafen. Sie legten sich hin und waren fast augenblicklich tief eingeschlafen.
Währenddessen wurden die Menschen, die bei ihnen vorbeikamen weniger und oft konzentrierten Michael, Phanuel und Raphael sich auf die gleichen Menschen. Und sie spürten, wie die Herzen sich unter dem Licht öffneten. Sie fanden es schade, dass die nicht wussten, was danach passierte, aber sie spürten, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Es war nicht so einfach, den Menschen zu helfen, wenn sie nicht darum gebeten hatten. Sie durften sich ja nicht ungefragt einmischen. Aber Licht zu den Herzen schicken, das durften sie immer.
Und so saßen die drei in der U-Bahn Unterführung. Die Menschen gingen achtlos an ihnen vorbei, merkten zwar, dass ihr Herz plötzlich leichter wurde, aber sie wären niemals auf die Idee gekommen, das dies mit der Gruppe von scheinbar Obdachlosen zusammenhing, die hier in der U-Bahn ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Die Menschen gingen ahnungslos an sieben Engeln vorbei.
In diesem Sinne wünsche ich Euch eine gute Nacht – morgen geht das Abenteuer der sieben Engel in der Menschenwelt weiter.
Alles Liebe und schlaft schön
Manou