oben schauen – unten lesen
In der Engelwelt war reges Treiben. Alle Engel – angefangen von den jüngsten Jung-Engeln bis zu den höchsten Engeln waren damit beschäftigt den Heiligen Abend und das Weihnachtsfest vorzubereiten. Dieses Jahr hatten sie ja ein wenig Personalmangel, da die größeren Engel beschlossen hatten, dass sie bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag über den Himmel ziehen wollten, damit die Menschen sich ihre Gegenwart genau verinnerlichten. Sie hatten ja schon erlebt, wie die Menschen manchmal waren. Selbst wenn sie etwas Außergewöhnliches erlebt hatten, vertrauten sie sich selbst nicht und redeten sich kurz danach schon ein, dass sie sich das alles nur eingebildet hatten. Und natürlich hatten sie es auch hier in der Engelwelt mitbekommen, dass die dunklen Mächte auf der Erde den Menschen einreden wollten, dass dies nur ein seltenes Wetterleuchten war. Das konnten sie so nicht akzeptieren, also würden sie fünf Tage lang über den Himmel ziehen. Bis dahin würden alle Menschen erkannt haben, dass es kein Wetterleuchten war, sondern dass sie ganz real über den Himmel zogen.
Doch auch in der Engelwelt machte man sich Sorgen um die Menschen. Die Engel spürten, dass auf die Menschen noch einige Herausforderungen zukommen würden. Sie mussten sich vollkommen neu organisieren. Und obwohl die zwölf Engel nun als Menschen auf der Erde waren und auch die Erzengel, die unten waren, alle Hände voll zu tun hatten, und obwohl viele Menschen schon umdachten, es blieb spannend.
Viele der alten Strukturen mussten aufgebrochen werden und die dunklen Mächte hatten sich in vielen Bereichen breitgemacht. Sie hatten ganze Institutionen unterwandert, die sich ursprünglich einmal dem Guten verschrieben hatten. Dies alles musste nun transformiert werden und dies würde viel Arbeit und vermutlich auch viele Konflikte bedeuten. Doch die Engel hatten Hoffnung, weil sie sahen, dass die Menschen so Vieles bereits selbst in die Hand genommen hatten. Doch sie würden staunen, wenn sie erst einmal das Ausmaß der Unterwanderung zu Gesicht bekommen würden. Und das konnte ihnen nicht erspart bleiben. Nur indem die Menschen sahen, was sie alles zugelassen hatten in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten, konnten sie nun die neuen und besseren Entscheidungen treffen.
Hannes saß bei Martin in der Werkstatt und raufte sich die Haare. „Ich bin gewohnt, viel zu arbeiten, aber ich fürchte, ich kann nicht mehr“, sagte er. Martin legte das Brett, das er gerade in der Hand gehalten hatte, zur Seite. „Kann ich etwas für dich tun?“, fragte er und setzte sich neben Hannes. Hannes schüttelte den Kopf. „Nein, ich fürchte, dass du nichts für mich tun kannst. Das ganze Unterfangen übersteigt gerade etwas meine Kräfte. Ich fürchte, ich bin einfach total erschöpft. Seit vier Wochen schlafe ich nur wenige Stunden und arbeite von früh bis spät und ich fürchte, es ist einfach zu viel.“ Martin konnte Hannes gut verstehen. Er hatte ja selbst erlebt, wie Hannes von frühestem Morgen bis spät am Abend unter Dauerstress stand. Er selbst war froh gewesen, dass er sich in die Werkstatt zurückziehen konnte, da er auch das Gefühl gehabt hatte, dass er sich aus dem ganzen Stress ein wenig heraustreten und trotzdem etwas Sinnvolles tun wollte. „Glaubst du, würde es dir helfen, wenn du heute ein wenig Pause machst?“, fragte Martin.
Hannes lehnte sich zurück und rieb seine Schläfen. „Ich glaube, es wäre hilfreich, wenn ich einen Spaziergang mache. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken und ich kann das Karussell nicht mehr anhalten. Heute Abend muss ich sowieso wieder die Sendung moderieren. Aber bis dahin könnte ich die Dinge vielleicht einfach laufen lassen. Das Team der Herren und Damen im Studio macht wirklich gute Arbeit und die Erzengel sind bei den verschiedenen Projekten und schauen dort nach dem Rechten. Ich denke, die Welt wird nicht untergehen, wenn ich eine kleine Pause mache“, sagte Hannes. Martin dachte einen Moment nach. „Ich nehme an, dass du die morgige Weihnachtssendung selbst moderieren möchtest, aber was hältst du davon, wenn ich die heutige Sendung übernehme und du dich einfach bis morgen zurückziehst.“ Hannes wollte zuerst widersprechen, hielt dann aber inne und dachte kurz nach. „Ich glaube, das ist ein sehr verlockender Gedanke. Ist das wirklich in Ordnung für dich?“, fragte er. Martin nickte. „Ja, das ist völlig in Ordnung für mich. Ich habe mich die letzten zwei Tage hier in der Werkstatt erholt und fühle mich sehr ruhig. Ich mache das liebend gerne für dich, und wie du weißt, habe ich die große Kunst des Sprechens ja auch einmal gekonnt. Ich denke, ich schaffe das.“
Hannes drückte Martins Arm und verließ die Werkstatt. Er brauchte Zeit für sich. Was in den letzten vier Wochen auf ihn eingeprasselt war, war noch nicht im Geringsten verarbeitet. Seit Martins Anruf vor vier Wochen hatte sich sein Leben vollkommen verändert. Natürlich war er schon immer ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen gewesen, aber es war ja noch viel mehr. Bis vor Kurzem waren Engel für ihn eine Art Fabelwesen. Und er hatte auch gedacht, dass die Welt eigentlich ganz gut war, so wie sie war. Und in den letzten Wochen war alles von unten nach oben gekehrt worden. Sein ganzes Weltbild stand auf dem Kopf. Langsam schlenderte er durch die Wiener Innenstadt und überlegte, was er mit der unverhofften freien Zeit nun anfangen sollte.
Obwohl er gerade nichts zu tun hatte, kreisten seine Gedanken. Hatte er Martin gut genug instruiert für heute Abend? Doch er wusste, dass er ein höchst professionelles Team im Sender hatte und dass Martin ebenfalls schon sehr häufig vor einem großen Publikum gesprochen hatte. Es konnte nicht viel passieren – und selbst wenn…dann würde die Welt sich trotzdem weiterdrehen. Er musste abschalten. Aber wie ging das? Kurz überlegte er, ob er noch ein paar Weihnachtsgeschenke besorgen sollte. Aber es kam ihm lächerlich vor. Was sollten die Menschen jetzt mit einem Schal oder einer Schachtel Pralinen anfangen? Er machte gerade viel größere Geschenke und das war auch viel wichtiger.
Mittlerweile war er am Stephansplatz angekommen und entschied sich über den Graben zur Hofburg zu gehen und dann zu überlegen, wohin ihn sein Weg führen würde. Noch immer zogen die Engel über den Himmel und das Summen war auch noch da. Fast war es schon normal geworden. Die letzte halbe Stunde hatte er überhaupt nicht darauf geachtet. In der Hofburg angekommen, zog es ihn über den Ring zur Maria Theresien Statue. Zunächst umrundete er sie, dann setzte er sich auf die Stufen und atmete tief durch. Dieses Jahr war alles anders. Normalerweise waren große Mengen von Touristen hier, aber heute war fast niemand da. Auf der anderen Seite der Statue saß ein junger Mann und fütterte die Tauben und ein paar ältere Damen drehten ihre Runden.
Das Picken der Tauben beruhigte seine Gedanken. Er studierte genau, welche der Tauben scheinbar die mutigste von allen war und er bewunderte den jungen Mann, wie er zielsicher auch immer ein paar Bröckchen zu den weniger mutigen Tauben hinüber schoss. Dabei musste er ganz vorsichtig sein. Waren die Bröckchen zu groß, erschraken die Tauben und flatterten weg. Waren sie zu klein, flogen sie nicht weit genug. Hannes war ganz gefangen von dem Schauspiel und merkte dabei gar nicht, wie er langsam anfing, sich zu entspannen. Mittlerweile hatte der junge Mann bemerkt, dass Hannes ihn beobachtete und lächelte ihm zu. „Danke, dass die mich nicht gleich zurechtweisen“, sagte er. Hannes sah ihn fragend an. „Die meisten Menschen hassen Tauben und nennen sie die Ratten unter den Vögeln. Aber das stimmt gar nicht. Tauben übertragen nicht mehr Krankheiten als andere Tiere auch. Und wenn sie sich bis auf den Boden begeben, haben sie schon furchtbar Hunger. Eigentlich sollte man ihnen ja Körner füttern, aber ich habe nur eine Semmel gehabt.“
Der junge Mann schien sich mit Tauben gut auszukennen. „Nein, ich fand es sogar sehr interessant zu sehen, wie sie darauf geachtet haben, dass alle von ihnen etwas bekommen“, erwiderte Hannes. Dann schaute er wieder in den Himmel. „Wie finden sie dieses Schauspiel da oben?“, fragte er den jungen Mann. Dieser folgte dem Blick von Hannes und versank eine Weile in stilles Beobachten. „Ich finde es faszinierend und es beruhigt mich. Und das finde ich seltsam. Sollte etwas, von dem wir nicht wissen, was genau es ist, uns nicht eigentlich beunruhigen?“, fragte der junge Mann. „Da haben sie wohl recht. Aber ich kann mich ihrer Meinung nur anschließen. Mich beruhigt es auch und ich habe das Gefühl, dass es eine so tiefgreifende Botschaft hat, dass ich sie gar nicht verstehen kann.
In dem Moment stutzte der junge Mann. „Sind sie nicht Hannes Frisch, der jeden Abend die Sendung moderiert, in der die Menschen sich gegenseitig bei neuen Projekten unterstützen?“, fragte er. Hannes lächelte und nickte. „Jawohl, der bin ich. Aber heute habe ich frei, weil mein Kollege Martin Körner heute für mich übernimmt. Ich fürchte, ich muss mich etwas entspannen“, sagte Hannes. „Oh bitte entschuldigen sie, dass ich sei gestört habe. Das wollte ich nicht“, sagte der junge Mann und wollte sich wegdrehen. „Nein, um Gottes Willen! Sie haben mich überhaupt nicht gestört. Genau genommen konnte ich mich erst entspannen, als ich ihnen beim Füttern der Tauben zugeschaut habe. Ich freue mich über unsere Bekanntschaft“, sagte Hannes.
Wieder schauten beide in den Himmel und beobachteten die Engel die in einer endlosen Reihe über ihnen ihre Runden zogen. Auch die wenigen anderen Menschen, die unterwegs waren, schauten immer wieder nach oben, dann sprachen sie weiter. „Es ist eine surreale Situation“, sagte Hannes mehr zu sich selbst. Der junge Mann schwieg noch eine Weile und erwiderte dann: „Ja, wie zwischen wachen und träumen.“ Hannes fand, dass dies die perfekte Definition war.
„Bitte verzeihen sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, sagte der junge Mann und reichte Hannes die Hand. „Ich weiß ja bereits, dass sie Hannes Frisch sind. Ich bin Jonas Liebhart.“ Hannes nahm die die Hand von Jonas Liebhart und schüttelte sie erfreut. Es war, als würde er einen alten Bekannten treffen.
Und wie es weitergeht, erfahrt ihr morgen am Heiligen Abend!
Manou