Mitten in der Nacht wachten Luisa, Theo, Uriel und Raphael auf. Und Michael, Phanuel und Gabriel legten sich schlafen. Es waren nicht mehr viele Menschen unterwegs und so hatten die beiden Jung- Engel Luisa und Theo genügend Zeit, sich mit den Erzengeln zu unterhalten. Es war der frühe Morgen des zweiten Advents.

„Was ist es eigentlich, was die Menschen so bedroht?“, fragte Theo. Diese Frage bewegte ihn schon die ganze Zeit. Raphael wiegte den Kopf hin und her. „Es sind mehrere Dinge. Erstens bedrohen sich die Menschen selbst durch ihre Bequemlichkeit. Das bedeutet, dass sie nicht die Dinge tun und verändern, die sie eigentlich tun sollten. Und zum anderen sind die dunklen Mächte gerade im Begriff, die Menschen wegen ihrer Bequemlichkeit zu übernehmen. Und wenn die dunklen Mächte die Menschen übernehmen, dann sieht es übel aus. Das wird dann eine sehr lange Zeit dauern, bis die Menschen die nächste Chance erhalten werden, sich zu befreien.“ Theo hörte gespannt zu. „Aber warum wollen die dunklen Mächte die Menschen übernehmen? Was haben sie davon?“ Raphael atmete tief ein. „Das ist eine schwierige Frage und ich weiß gar nicht, ob ich mit einem Jung-Engel darüber sprechen sollte. Aber nun sitzen wir alle hier in dieser U-Bahn Passage und versuchen zu retten, was zu retten ist, also spreche ich auch mit euch darüber.“ Raphael schwieg eine Weile, als überlegte er, womit er beginnen sollte.

„Hört gut zu“, sagte er zu Luisa und zu Theo gewandt. „Die Menschen wissen es nicht, aber eigentlich sind sie dazu bestimmt, dass sie eines Tages auch zu Engeln werden. Das ist der göttliche Plan für die Menschen. Und eigentlich sah es in den letzten Jahren schon ganz gut aus. Eine Menge Menschen hatten begonnen, sich für die Erde einzusetzen. Sie hatten erkannt, dass sie sich auch für die anderen Menschen einsetzen müssen und nicht nur an sich denken dürfen. Und sie hatten auch begonnen, sich für die Tiere einzusetzen. Aber eine große Anzahl von dunklen Kräften war immer stärker und hatte die Bemühungen derjenigen Menschen, die schon erkannt hatten, was sie zu tun haben, wieder zerstört. Die dunklen Mächte haben riesige Tierfabriken durch die Menschen bauen lassen. Sie haben dafür gesorgt, dass natürliche Heilmittel immer mehr verdrängt wurden und sie haben große Fabriken gebaut, in denen Substanzen hergestellt werden, die die Menschen nicht gesünder, sondern immer schwächer machen. Aber es gab immer Menschen, die sich dadurch nicht beirren ließen. Und nun haben die dunklen Mächte beschlossen, dass die Menschen viel weniger Freiheiten haben sollten.“

An dieser Stelle hörte Raphael auf, weil eine Gruppe junger Leute auf sie zukam. Die vier Engel setzten sich auf und konzentrierten sich auf die Herzen dieser Menschen, die gerade auf sie zukamen. Es waren drei junge Burschen und zwei junge Frauen. Als sie näherkamen, verlangsamten die fünf ihre Schritte und schauten die vier Engel an. Luisa und Theo bekamen Angst. Ihnen fielen gerade wieder die Geschichten ein, die Martin ihnen erzählt hatte. Luisa schloss vor Schreck die Augen.

Als sie die Augen wieder öffnete, standen die fünf jungen Leute direkt vor ihnen. Die Mädchen gruben in ihren Taschen und warfen ihnen ein paar Münzen auf die Decke. Uriel nickte ihnen zu und bedankte sich. Eines der Mädchen sagte: „Irgendwas ist komisch mit euch. Ihr seht gar nicht wie Obdachlose aus.“ Raphael zuckte mit den Schultern und sagte: „Was genau ist bei uns anders?“ Das Mädchen dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich kann es nicht erklären, aber ihr leuchtet irgendwie. Ihr habt eine andere Ausstrahlung.“ Uriel sog die Luft zwischen den Zähnen ein. „Echt. Das ist ja interessant“, sagte er betont gleichgültig.  Noch eine Weile starrte das Mädchen sie an, dann gingen sie weiter. „Seht ihr“, sagte Raphael zu Luisa und Theo. Es gibt Menschen, die schon viel mehr wahrnehmen als andere Menschen. Das sind die Hoffnungsträger. Aber sie wissen es nicht. Und wir müssen nun Wege finden, wie wir ihnen das vermitteln können.“

„Und glaubst, du, was wir hier machen ist der richtige Weg?“, fragte Luisa nun, die schon die ganze Zeit insgeheim zweifelte, dass dieser Weg der beste war. Raphael zuckte erneut mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Dadurch, dass wir uns nicht richtig einmischen dürfen, haben wir beschlossen, dass wir nur auf diese Art und Weise arbeiten werden. Aber ich bin mir auch nicht so ganz sicher, ob wir dabei genügend erreichen. Selbst wenn wir die Herzen der Menschen erreichen, wissen wir nicht, ob sie dann auch etwas damit tun. Und die Tatsache, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, macht das Ganze noch schwieriger.“

Luisa schaute sich um. Die Trostlosigkeit der Menschenwelt bedrückte sie. Alles war dunkel, schmutzig und roch auch nicht gut. Naja, sie waren auch in einer U-Bahn-Passage. Das war bestimmt nicht der schönste Platz. Aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie immer noch auf dem falschen Weg waren. Insgeheim wunderte sie sich auch darüber, dass die Erzengel keine bessere Idee hatten. Die großen Engel, die ihre Mission bewachten, offenbar auch nicht. Wie konnte es sein, dass sie als kleiner Jung-Engel offenbar mehr an der Sache zweifelte als die anderen? Vielleicht lag sie ja falsch und alles war richtig wie es war. Aber sie glaubte es nicht wirklich.

Es kamen nur wenige Menschen vorbei bis die drei anderen Erzengel Michael, Gabriel und Phanuel wach wurden. Als sie wieder zu siebt auf der Decke saßen und darüber sprachen, was sie bisher vielleicht erreicht oder auch nicht erreicht hatten, schweifte Luisa immer wieder mit ihren Gedanken ab. Sie hatte das Gefühl, sie mussten hinausgehen und zu den Menschen sprechen, aber sie wusste nicht, was sie ihnen sagen sollten.

Vermutlich würden die Menschen ihnen gar nicht zuhören. Draußen war alles so laut und die Menschen waren so eilig. Sie mussten einen anderen Weg finden, wie sie sich Gehör verschafften. Sie dachte sogar darüber nach, ob die Methode, wie sie mit Martin und Mongila gearbeitet hatten, nicht doch die viel bessere Methode war. Martin! Sie mussten zu Martin gehen. Sie hatte schon gestern Abend das Gefühl gehabt, dass sie mit Martin sprechen sollten. Vielleicht sollten sie ihn ja einweihen?

Ihr großes Problem war ja, dass sie sich in der Menschenwelt gar nicht auskannten. Martin kannte sich perfekt aus und das würde wahrscheinlich viel Zeit sparen. Jetzt brauchte sie nur noch genügend Mut, um den anderen zu sagen, was sie dachte. Aber diese hatten schon längst bemerkt, dass Luisa gar nicht der Unterhaltung zuhörte, sondern ihren eigenen Gedanken nachhing. Und sie warteten schon gespannt darauf, was sie zu sagen hatte. Als Luisa sich endlich ein Herz gefasst hatte, um die anderen in ihre Idee einzuweihen, schauten diese schon alle zu ihr.

„Warum starrt ihr mich alle an?“, fragte sie und es war ihr schrecklich unangenehm. „Wir können zwar hier in der Menschenwelt nicht deine Gedanken lesen, wie wir es in der Engel-Welt können, aber wir konnten förmlich hören, dass du angestrengt gedacht hast“, sagte Phanuel. Luisa lachte nun. „Ja, das stimmt. Ich wusste gar nicht, dass ich so laut denke“, sagte sie und erzählte den sechs anderen Engeln von ihren Gedanken.

Als sie geendet hatte, waren alle erst einmal sehr schweigsam. Wollten sie wirklich einen Menschen in ihren Plan einweihen? Durften sie das überhaupt? Es entstand eine lange Diskussion. Theo, der Martin ja auch kannte, war ganz Luisas Meinung. Michael und Raphael ebenfalls. Aber Phanuel, Gabriel und Uriel waren skeptisch. Auf der anderen Seite hatten sie sehr viel zu verlieren, wenn sie nicht endlich einen Weg finden würden, wie sie mehr und schneller die Menschen erreichen konnten. Sie mussten noch so unendlich viel Licht in die Welt der Menschen bringen, dass es schon fast unmöglich erschien. Die Menschen waren nur sehr schwer zu erreichen. Und sie als Engel waren auch viel zu wenig vertraut damit, wie sie das schaffen könnten. Irgendwann kamen sie zu der Entscheidung, dass sie einen Versuch starten wollten. Sie wussten ja nicht einmal, ob Martin noch in der Tischler-Werkstatt war, oder ob er nicht mittlerweile weitergezogen war. Somit machten sie sich auf den Weg. Es war ein seltsamer Anblick, als die sieben Engel sich auf den Weg zu der Tischler-Werkstatt machten.

Als sie ankamen, öffnete Martin höchst erfreut die Tür. So viel Besuch hatte er nicht erwartet. Und sie kamen lange nicht dazu, ihr Anliegen vorzubringen, denn Martin war vor Begeisterung nicht zu halten und erzählte, was er in den letzten Tagen alles in die Wege geleitet hatte. Er hatte schon drei weitere Menschen ohne Wohnung gefunden, die ihm bei der Arbeit helfen würden, sobald er alles vorbereitet hatte. Dies wollte er noch alleine und in aller Ruhe tun. Klara und er waren mittlerweile auch schon gute Freunde geworden und sie versorgte ihn offensichtlich rührend mit Essen. Martin erzählte, dass sie mehrmals täglich kam und ihm auch von ihrem Leben berichtete, das sie führte, als ihr Mann und Sohn noch lebten und bestätige Martin, dass sie sich sehr darüber freute, dass wieder Leben in die Werkstatt einzog.


Während er berichtete, schauten sich Theo und Luisa um. Sie hatten die Werkstatt ja zuvor gesehen und das, was Martin nun daraus gemacht hatte, versetzte sie in Erstaunen. Alles war blitzblank sauber. Ein paar Maschinen lagen in ihren, ordentlich sortierten, Einzelteilen auf den Tischen. Martin war ganz offensichtlich dabei, den ganzen Maschinenpark zu pflegen und neu zu gestalten.

Während er noch sprach, kam Klara herüber und erklärte sich bereit, wieder einmal Tee und Kekse zu servieren und alle sieben Engel erlebten, wie das Glück in die Herzen der beiden eingezogen war.

Sie würden sich wohl noch etwas gedulden müssen, bis sie Martin ihr Anliegen vortragen konnten. Aber die Wärme und die Behaglichkeit in der Werkstatt gefiel ihnen und sie spürten alle sieben, dass der Schritt, sich einem Menschen anzuvertrauen, wohl doch der gute und richtige Schritt war.

Und wie Martin auf die Geschichte der sieben Engel reagieren wird, erfahrt Ihr morgen.

Ich wünsche Euch allen eine wunderbare und ruhige Nacht.

Manou

Bild von Lothar Dieterich auf Pixabay

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