Am nächsten Morgen standen sie schon früh auf. Klara ließ es sich nicht nehmen, den gefiederten Damen die Stalltür zu öffnen und ihnen einen guten Morgen zu wünschen. Träges Gurren war die Antwort. Linda bereitete Frühstück und Pausenbrote vor und kurz nach sieben rollten sie schon vom Hof.

Linda hatte sich gleich eine große Liste gemacht, was sie noch alles in der Stadt erledigen wollte. Beppo würde am Vormittag mal nach den Hennen schauen. Zu Mittag waren bereits eine Menge Formalitäten erledigt, der Notar war über die aktuelle Situation unterrichtet und Linda fühlte sich stark und tatkräftig. „Seltsam…“, dachte sie. „…vor wenigen Tagen war ich noch eine graue Maus, die sich von ihrem herrischen Mann alles gefallen ließ, und plötzlich geht mir alles ganz leicht von der Hand. Niemals hätte ich es geglaubt, wenn mir das jemand erzählt hätte.“

Sie entschied sich, noch gemütlich einen Kaffee zu trinken, bevor sie die Kinder wieder aus der Schule abholte. Sie würden noch rasch die wichtigsten Utensilien fürs Landleben kaufen müssen: Regenjacke, Gummistiefel, dicke Socken und eventuell Arbeitshosen und Hemden. Bisher war das Wetter trocken und warm, da fiel es nicht so auf, wenn man mit Straßenschuhen ging, aber sobald es regnete und kühler wurde, würden sie vermutlich ganz dringend auf Gummistiefel und wasserdichte Kleidung angewiesen sein.

Die Kinder waren begeistert darüber, sich professionelle Bauernkleidung zu kaufen. Linda war sich nicht sicher, ob sie das Ganze noch wie ein Spiel betrachteten, das ihnen eines Tages langweilig werden würde. Aber es machte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Sie würden es erleben.

Wieder zuhause angekommen, konnten sie es alle drei kaum erwarten, die Damen zu besuchen. Mittlerweile waren sie alle aus dem Stall herausgekommen und Linda sah sofort, dass Beppo recht hatte, der Auslauf musste viel größer sein. Es war schon fast ein Gedränge in dem Gehege und an manchen Stellen war das Gras schon ganz weggescharrt und der Boden schaute heraus. Das würde eine schöne Schlammpfütze geben, wenn sie das alles nackig scharren würden.

Die Kinder entschlossen sich beide, die Hausaufgaben am Küchentisch zu machen, während Linda das Abendessen zubereitete. Es war wie früher, nur besser. Früher war ihre gemeinsame Zeit in der Küche begrenzt, aber jetzt konnten sie tun und lassen was sie wollten. Stück für Stück sickerte die neue Freiheit in ihr Bewusstsein.

Plötzlich sprang Jonas auf! „Hat schon irgendwer geschaut, ob die Hühner Eier gelegt haben?“ Linda und Klara schauten erschrocken. „Uff, nein. Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, sagte Linda und Jonas rief: „Komm Klara, wir schauen mal nach!“ Linda musste schmunzelnd. Ja, sie waren wirklich blutige Anfänger. Sie hatten zwar die Hühner gefüttert und das Wasser erneuert, aber an die Eier hatte noch keiner gedacht.

Es dauerte eine ganze Weile bis die beiden wieder herein kamen. Linda blieb der Mund offen. Die beiden hatten Unmengen von Eiern in einer Wanne. „Die meisten haben wirklich in die Nester gelegt, aber ein paar waren auch unten im Stroh“, sagte Klara. „Herrjeh, was machen wir denn mit so vielen Eiern?“, fragte Linda. „Ja, und morgen kommen wieder so viele und übermorgen auch“, ergänzte Jonas.

Linda lachte. „Ich fürchte, das habe ich gewaltig unterschätzt, obwohl wir gestern darüber gesprochen haben. Wenn ihr schon fertig seid mit den Hausaufgaben, bringt doch bitte gleich mal einen Eimer voll zu Beppo und Herta. Und fragt sie, wie viele wir täglich bringen dürfen.“ Vorsichtig füllte Klara einen Eimer mit Eiern und gemeinsam gingen sie über die Felder hinüber zu Beppos und Hertas Haus. Linda sah ihnen nach. Was für eine Idylle. Sie konnte es kaum glauben.

Seit Georgs überraschendem Besuch hatte sie auch von ihm nichts mehr gehört. Aber Linda wusste, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm war. Sie würde sich einen Plan zurechtlegen müssen. Gerade als sie darüber nachdachte, was Georg als nächstes tun könnte, kamen die Kinder aufgeregt in die Küche gerannt. „Mama, du sollst einen Sprung rüberkommen. Beppo und Herta haben Besuch von ihrem Sohn und sie möchten euch gerne bekannt machen!“

Die beiden waren noch ganz außer Atem. Linda zuckte innerlich zusammen. Sie hatte den beiden ihre ganze Lebensgeschichte erzählt und sie mit ihren Sorgen belästigt und hatte nie nach ihrem Leben gefragt. Sie war bisher gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass die beiden einen Sohn hatten. Schnell zog Linda die Töpfe und Pfannen vom Herd und folgte den Kindern hinüber zum Haus der beiden. „Oh Linda, schön, dass du dir Zeit nimmst“, wurde sie gleich von Herta an der Tür empfangen. „Simon ist überraschend vorbeigekommen und ich möchte so gerne, dass ihr beiden euch kennenlernt“, sagte sie.

Linda war neugierig. Wie konnte man sich den Sohn dieses herzigen Ehepaares vorstellen? War er auch so ein Netter? Sie folgte Herta in die Küche. Simon saß auf der Eckbank und grinste. „Aha, da kommt also die nette junge Frau, die meine Eltern so begeistert“, sagte er und stand auf um Linda zu begrüßen. Und das war gar nicht so einfach. Simon schien doppelt so groß zu sein wie seine Eltern und er bemerkte ihren erstaunten Blick sofort. „Ja, ich habe die Körpergröße, die meinen Eltern fehlt, für mich gebraucht“, sagte er und versuchte aufrecht zu stehen, obwohl der Tisch gegen seine Oberschenkel drückte.

Linda lachte. „In der Tat, sie sind wirklich sehr groß geraten“, sagte sie und schüttelte seine Hand. „Ich bin Linda. Das sind Klara und Jonas“, fügte sie hinzu. „Das weiß ich doch alles“, sagte er. „Meine Eltern sind so glücklich, dass hier endlich wieder Leben einkehrt, und haben mir alles haargenau erzählt. Sie sind die Heldin des Dorfes“, sagte er und dabei zuckten seine Mundwinkel vor unterdrücktem Lachen und die Fältchen um seine Augen vertieften sich.

„Wieso sollte ich die Heldin des Dorfes sein?“, fragte Linda. „Naja, eine Städterin, die am zweiten Tag auf dem Land gleich mal hunderte Hühner adoptiert, obwohl sie vom Landleben keine Ahnung hat, sorgt schon für eine gewisse Bewunderung bei den Leuten hier und auf jeden Fall für massig Gesprächsstoff. Und meinen Eltern gebührt natürlich dabei die größte Aufmerksamkeit, weil sie alles haargenau wissen. Sie sind ja praktisch dabei. Wissen sie was das für eine Abwechslung ist, hier in der Einöde?“ Linda schluckte. So hatte sie das noch gar nicht betrachtet.

Ja, sie hatte vom Landleben keine Ahnung und auch nicht davon, wie sehr Jeder am Leben des Anderen interessiert war. Das kannte sie tatsächlich nicht. „Na dann…“, sagte sie nur und setzte sich ebenfalls an den ausladenden Küchentisch. „Wohnen sie auch hier?“, fragte sie Simon. „Bald wieder. Ich habe gerade einen Kassenvertrag in Heidetal erhalten und bin heute gekommen um meinen Eltern die freudige Nachricht zu überbringen.“

Linda sah, wie Beppo und Herta strahlten. Es musste eine Riesenfreude für sie sein. „Simon ist nämlich Radiologe“, sagte Herta und der Stolz auf ihren Sohn war nicht zu überhören. „Wow!“, sagte Linda. „Ich wusste gar nicht, dass ihr einen Sohn habt, der Arzt ist“, sagte sie.

„Hättest du nicht erwartet, von den einfachen Bauern, gell“, sagte Beppo und lachte. „Ja, Simon ist unser einziges Kind und wir sind sehr stolz auf ihn, obwohl wir von dem, was er macht, nichts verstehen. Ich hätte ja lieber gehabt, dass er Hausarzt wird, damit wir zu ihm gehen können, wenn wir Husten und Schnupfen haben, aber das hat ihn nicht interessiert. Er hat sich immer schon für Technik interessiert.

„Ja, ich habe es mehr mit der Technik und weniger mit den Menschen“, sagte Simon. „Man wird ja auch aus dem Grund Radiologe, weil man Patienten lieber schwarz-weiß und zweidimensional sehen mag“, ergänzte er und lachte. „Nicht nur meine Eltern finden, dass Radiologen eigentlich keine richtigen Ärzte sind“, sagte er.

Linda schmunzelte. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht und sie versuchte, sich an die wenigen Male zu erinnern, in der sie eine radiologische Praxis betreten hatte. Auch sie erinnerte sich daran, dass sie von der vielen Technik geradezu eingeschüchtert war. „Und wann werden sie die Praxis eröffnen?“, fragte sie zu Simon gewandt. „So schnell wie möglich. Der Kollege in Heidetal hatte einen schweren Unfall und wird nicht mehr arbeiten können und ich war schon so lange auf der Warteliste für den Kassenvertrag, dass ich die Nachricht heute erhalten habe und so schnell wie möglich eröffnen soll.


Ich wünsche Euch einen wunderschönen Montag und einen tollen Start in die letzte Woche vor Weihnachten

Liebe Grüße

Manou

4 Kommentare zu „Lindas neues Leben 14

  1. Liebe Manu, ich trau mich fast wetten, wie es zwischen Simon und Linda weitergeht … ;-). Was für eine schöne Geschichte !!!!

    Liebe Grüße, Antonia

  2. Da bin ich gespannt, wie es zwischen Simon und Herta weitergeht. Ich könnte mir vorstellen, dass sie in seiner Praxis arbeiten wird.

    Wünsche dir einen schönen Stsrt in die Woche❤️

Kommentar verfassen