Linda stand da, als hätte man ihr gerade einen Kübel Eiswasser über den Kopf geschüttet. „Moment, das geht doch nicht einfach so. Können wir die Sache nicht gemeinsam mit Frau Singer besprechen, dann werden sie sehen, dass hier ein Missverständnis vorliegt?“, sagte Linda aufgebracht und merkte wie ihre Stimme zitterte. Verzweifelt sah sie sich nach der Sekretärin um. Irgendwer musste doch jetzt etwas sagen!

Die Vorwürfe stimmten doch überhaupt nicht. Sie hatte den Fall nach der ersten Kontaktaufnahme an Elfie Singer abgegeben, da sie das Angebot sonst nicht fristgerecht geschafft hätte. Das musste alles aufzuklären sein! Aber Herr Bergmann schien nicht im Geringsten gewillt, ihr auch nur den Hauch einer Chance zur Verteidigung zu geben. „Bitte packen sie ihre Sachen zusammen, sie sind sofort freigestellt. Die Kündigung erfolgt fristgerecht. Ich möchte, dass sie das Unternehmen sofort verlassen.“

„Aber…“, begann Linda. „Das Gespräch ist beendet“, herrschte Herr Bergmann sie an. „Sie müssen nur noch hier unterschreiben. Es ist schon alles vorbereitet.“ Linda war wie in Trance. Sie nahm den Stift, den Herr Bergmann ihr entgegenstreckte und setzte ihren Namen unter das Blatt Papier, ohne es noch einmal genau durchzulesen. Sie musste sofort zurück ins Büro und mit Elfie sprechen. Sie würde das aufklären können. Als sie ins Büro kam, waren alle Plätze leer. Sie eilte zurück zum Empfang. „Wo sind meine Kolleginnen alle?“, fragte sie die Empfangsdame.

Diese sah lächelnd auf und antwortete: „Tut mir leid, ich weiß es nicht.“ Linda eilte zurück und wollte gerade ihren Computer einschalten als Herr Bergmanns Sekretärin im Türrahmen erschien. „Bitte Frau Hohenfeld, machen sie es uns nicht noch schwerer. Sie dürfen den Computer nicht mehr benutzen. Packen sie bitte ihre Sachen zusammen, ich begleite sie zur Tür.“ „Ich möchte mit Elfie Singer sprechen“, sagte Linda und merkte, wie sie zu zittern begann. „Das ist ein Missverständnis! Ich habe das Angebot an den Chinesen nicht ausgepreist.“ 

„Bitte Frau Hohenfeld, tun sie, was ich ihnen gesagt habe“, sagte die Sekretärin höflich und ungerührt. Linda sah sich noch ein paar Mal um. Es musste doch jetzt endlich jemand zur Tür hereinkommen, der half, dieses Missverständnis aufzuklären. Aber der Gang blieb leer. Niemand war zu sehen. Jetzt erst wurde Linda bewusst, dass da offenbar ein abgesprochenes Spiel lief. Es würde niemand kommen. Die warteten alle irgendwo, bis sie weg war. Mit zitternden Händen zog sie die Schubladen auf und holte die paar persönlichen Dinge heraus, die sie hier aufbewahrte. In weniger als zehn Minuten hatte sie alles eingepackt, was ihr gehörte.

Die Sekretärin hatte auch bereits die Formulare für die Schlüsselübergabe in der Hand. Linda überreichte ihr sämtliche Schlüssel und ID Karten und erhielt die Übergabebestätigung. Die Sekretärin geleitete sie bis zum Lift. „Ich wünsche ihnen alles Gute. Sie erhalten alle Unterlagen per Post“, sagte sie noch und wartete, bis Linda eingestiegen war. Linda fuhr nach unten, und sah sich noch ein letztes Mal in der großen Eingangshalle um. Dann ging sie mit weichen Knien zu ihrem Wagen, stieg ein und starrte Minuten lang durch die Windschutzscheibe.

War das ein böser Traum? Das musste doch schon von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Warum hatte sie nichts bemerkt? Die Antwort fiel ihr leicht. Sie war niemals wirklich ins Team integriert gewesen. Sie hatte kein Interesse an den Lästereien der Kolleginnen gehabt, ging auch nicht mit ihnen ins Fitness-Studio. Aber dass sie so unbeliebt war, dass man sie einfach unter einem Vorwand hinauswarf, hätte sie nie gedacht. Linda war fassungslos. Langsam löste sich ihre Starre und Tränen traten in ihre Augen. Das war es also. Sie war gefeuert. Und obwohl sie den Job immer gehasst hatte, war sie traurig. Weniger über den Verlust, als darüber, wie schäbig sie hinausgeschmissen wurde.

Langsam drehte sie den Schlüssel im Zündschloss und fuhr den Wagen vom Parkplatz und fast wie von selbst schlug sie den Weg zum Hof ein. Niemand würde sie in den nächsten Stunden vermissen und dort konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen und ihre Gedanken ordnen, bevor sie am Nachmittag auf die Kinder traf.

Als sie den Wagen in die Einfahrt lenkte, merkte sie, wie die Anspannung etwas nachließ. Diese Umgebung beruhigte sie ungemein. Sie stieg aus, nahm den Schlüssel aus der Tasche und ging zur Tür. Es war seltsam, sie fühlte sich, als hätte sie diese Tür schon hundert Mal aufgeschlossen, dabei war es heute erst das zweite Mal. Der etwas modrige Geruch des Hauses empfing sie.

Linda ging durch alle Räume und öffnete die Fenster. Die warme, milde Frühsommerluft drang durch das Haus. Linda setzte sich wieder auf die Bank im Garten und hing ihren Gedanken nach. Wie viel sich in so kurzer Zeit verändern konnte. Die Erbschaft, die Erkenntnis über den Zustand ihrer Ehe, der Jobverlust… es war alles ein wenig viel, aber Linda spürte trotz der Überforderung auch, dass dies jetzt ihre Chance war. Wenn sie jetzt nicht handelte, würde sie es nie tun. Aber sie brauchte einen Plan. Sie musste dieses Haus so schnell wie möglich bewohnbar machen. Das war eine Menge Arbeit, aber sie hatte ja jetzt Zeit.  

Einige Zeit später hatte sie bereits die Zimmer gesichtet, die in etwas besserem Zustand waren. Die würde sie zuerst entrümpeln. Aber sie wollte vorsichtig vorgehen und nichts wegschmeißen, was ihr vielleicht einen Teil ihrer offenbar unbekannten Familiengeschichte erzählte.

Warum hatte Mutter nie über ihren Onkel gesprochen? Das war seltsam. Das erste Mal dachte sie über diesen Mann nach, dessen Leben jetzt so offen ausgebreitet vor ihr lag. Überall fand sie Papiere und Dokumente von ihm. Da sie sich jetzt nicht verzetteln wollte, sammelte und stapelte sie diese fein säuberlich und packte sie in Kartons. Eines Tages würde sie Zeit haben, diese zu sichten.

Linda war ganz in ihre Arbeit vertieft, als sie Geräusche aus dem Erdgeschoss hörte. Sie fuhr zusammen. Wer konnte das sein? Während sie überlegte, kroch Angst in ihr hoch. Niemand wusste wo sie war, niemand würde sie in den nächsten Stunden vermissen. Warum hatte sie nur die Tür nicht abgeschlossen? Leise schlich sie sich zur Treppe. Vielleicht hatte sich ja nur eine Katze herein verirrt. Sie lauschte. Da waren ganz deutlich Schritte zu hören.

Linda kroch der Angstschweiß aus den Poren. Sie sah sich nach etwas um, das als Waffe geeignet war. In dem Moment stolperte sie über einen Karton und fiel hin. Die Schritte unten wurden schneller.

Und wer Linda an diesem Morgen auf dem Hof überrascht, erfahrt ihr morgen.

Ich wünsche Euch einen wunderschönen Sonntag!

Ganz liebe Grüße

Manou

7 Kommentare zu „Lindas neues Leben 6

  1. Ich finde die Geschichte sooo spannend, was mich allerdings stört::-) das tägliche Warten , bis der nächste Teil folgt. Ich schaffe es aber auch nicht, zu warten bis alle Teile da sind und sie dann zu lesen. Und immer wenn es am spannendsten ist, werde ich auf den nächsten Tag verströstet.

      1. Nein es nervt nicht, es liegt daran, dass Geduld nicht meine Stärke ist, da muss ich noch einiges lernen.

  2. Juhu, danke, freu mich schon so. Sind meine Lichtblicke, ich bin von klein auf eine Leseratte, das habe ich von meinem Opa. Seit 15 Jahren kein TV mehr und ich vermisse nichts. Bücher sind für mich Kino im Kopf.

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