Vielleicht lag es daran, dass rund ums Haus nur Natur war, aber Lind hatte hier das Gefühl, dass sie endlich wieder zu sich selbst finden konnte. Langsam stieg sie noch einmal die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Sie betrat jeden Raum und fragte sich, wer hier sein Schlafzimmer finden würde. Die Räume waren möbliert, aber scheinbar hatte der Besitzer diese Räume weder genutzt noch betreten. Es war, als lägen diese Zimmer in einem Dornröschenschlaf. Linda würde sie sanft aufwecken.
Obwohl das Haus derzeit nicht besonders einladend aussah, fühlte sich Linda jetzt schon wohl. Langsam ging sie wieder nach unten und wanderte durch den Garten und die Nebengebäude. So viele Möglichkeiten gab es hier, sich zu verwirklichen. Linda setzte sich auf eine alte Bank unter einem Nussbaum und dachte nach. Wie sollte sie nun weiter vorgehen? Georg hatte sie schon so lange in ihrer Freiheit beschnitten, dass sie mittlerweile Angst davor hatte. Aber eines wusste sie genau: Dieses Haus war ihre Chance für ein Leben, das zu ihr passte.
So lange hatte sie sich an das Leben angepasst, das Georg für standesgemäß hielt, dass sie schon ganz vergessen hatte, wer sie eigentlich selbst war. Aber hier würde sie sich absolut wohl fühlen und sich vielleicht auch selbst wiederfinden können. Der Gedanke jagte ihr einen schaurig-schönen Schauer über den Rücken. Es war Angst, gepaart mit Hoffnung. Linda vergaß hier alles. Als sich nach einer Weile die Kinder wieder zu ihr gesellten, wusste sie nicht einmal, wieviel Zeit bereits vergangen war. „Hier ist es so schön, dass ich am liebsten gleich dableiben würde“, sagte Klara und schaute sich verträumt im Garten um.
Jonas legte sich zu ihren Füßen ins Gras und schaute in den Himmel. „Ich habe mich auch noch selten so wohl gefühlt wie hier. Es ist hier, als ob wir immer in Urlaub wären“, sagte er. Lindas Entscheidung war also klar. Sie musste Nägel mit Köpfen machen. Nicht nur den Kindern zuliebe, auch für sich selbst. „Bitte gebt mir noch etwas Zeit, ich habe noch keine Ahnung, wie ich das eurem Vater sagen soll. Dass er nicht mit hierherkommen wird, ist euch schon klar?“, fragte sie. Die Kinder schwiegen eine Weile. „Ich weiß, ich dürfte das gar nicht sagen“, begann Jonas und holte tief Luft. „Mir würde ein Leben ohne Papa deutlich besser gefallen. Ich halte seine ewige Meckerei schon lange nicht mehr aus. Seit mindestens drei Jahren rechne ich mir aus, wie lange es noch dauert, bis ich ausziehen kann…“ Jonas schluckte und schwieg.
Linda blieb fast die Luft weg. So schlimm war es für ihre Kinder? Das hatte sie nicht gewusst. Sie dachte sich schon, dass die Kinder oft von ihrem Vater genervt waren, aber dass Jonas sogar ausrechnete, wann er endlich ausziehen kann, machte sie sehr betreten. „Mir geht es ähnlich“, sagte Klara. Papa sieht doch gar nicht, wer wir sind, sondern nur, was wir gerade nicht erledigt haben, oder nicht so, dass er zufrieden ist. Und genau genommen ist er nie zufrieden.“ Linda nickte und schwieg.
Das war heftiger als sie gedacht hatte. Auch ihr blieb die Luft weg, wenn sie an ihre Villa am Stadtrand und vor allem an Georg dachte. Wie konnte es überhaupt passieren, dass er sie, eine früher einmal unabhängige und selbstbewusste Frau, in so eine Rolle pressen konnte? Sie konnte ihm allerdings nicht die alleinige Schuld geben. Sie hatte ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen. Es gab eine Zeit, in der sie seine Fürsorglichkeit genossen hatte. Allerdings war er heute nicht mehr fürsorglich, sondern eher despotisch. Sein Wort galt. Was er wollte, hatte zu geschehen.
Wann hatte er sie das letzte Mal gefragt, was sie wollte? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Wann hatte sie das letzte Mal auf den Tisch gehauen und gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte? Auch daran konnte sie sich nicht erinnern. Still und leise war sie zur Duckmäuserin geworden. Für die materielle Sicherheit und die Bequemlichkeit hatte sie sich selbst aufgegeben. Und das Schlimmste war, sie hatte es nicht einmal wirklich bemerkt. Ja, in den letzten Jahren hatte sie sich unwohl gefühlt. Aber sie hatte es einfach ertragen. Sie hatte nichts dagegen unternommen.
Jetzt musste sie es tun und sie fühlte nichts als nackte Panik vor den nächsten Schritten. Linda wurde schwindelig. Das war alles etwas viel auf einmal. So viele Erkenntnisse, die allesamt nicht angenehm waren. Sie brauchte ein paar Tage Zeit. Morgen würde sie den Notar bitten, dass er sie ins Grundbuch eintrug und dann würde sie eines Tages den Mut finden, Georg die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit über ihr Leben und über ihre Beziehung. Heute Abend hatte sie ja noch Zeit, er würde nicht vor Mitternacht kommen, hatte er gesagt. Das beruhigte sie.
„Kommt, wir machen noch einen letzten Rundgang, dann fahren wir nach Hause.“ Gemeinsam schritten sie noch einmal das ganze Grundstück ab, schauten in alle Nebengebäude und in alle Räume des Hauses. Sie alle wollten sich jedes Detail merken, damit sie in Ruhe ihre Pläne schmieden konnten. Dann endlich, es wurde bereits dunkel, schlossen sie sorgfältig alle Türen und gingen zum Auto.
Die Heimfahrt verlief sehr schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. Als sie in ihre Straße einbogen, erschraken sie zutiefst. Georgs Auto stand in der Einfahrt. „Scheiße! Papa ist da“, sagte Jonas. Linda schnappte nach Luft. Das brachte ihre Pläne durcheinander. Er würde sicher wissen wollen, wo sie gewesen waren. Seltsam, dass er nicht angerufen hatte. Linda zog das Handy aus der Tasche und sah, dass elf Anrufe in Abwesenheit eingegangen waren – alle von Georg. Verdammt! Sie hatte nach dem Notarbesuch vergessen, das Handy wieder laut zu stellen. Lindas Herz schlug bis zum Hals. Jetzt spürte sie das erste Mal bewusst, welche Panik Georg in ihr wachrufen konnte. Was würde sie ihm jetzt sagen?
Vor allen Dingen konnte sie den Kindern unmöglich auferlegen, dass sie ihren Vater anlügen. Also musste sie nun sofort Farbe bekennen. Das war ihr nicht recht, aber vielleicht war es der einfachste Weg. Sie atmete tief durch. „Okay, dann werde ich Papa jetzt von dem Haus erzählen müssen“, sagte sie und versuchte Zuversicht in ihre Stimme zu legen. „Aber lass dich bitte nicht dazu überreden, dass wir das Haus verkaufen müssen“, sagte Jonas und Linda hörte genau die Panik, die darin mitschwang. „Nein, dieses Mal bleibe ich stark. Ich habe das Haus geerbt und ich werde es behalten.“ Klara schwieg. Sie kämpfte noch damit, dass die unbeschwerte Stimmung der letzten Stunden so ein jähes Ende gefunden hatte. Gemeinsam betraten sie das Haus.
Und morgen geht`s weiter.
Ich wünsche Euch einen schönen Freitag Abend
Liebe Grüße
Manou