Drinnen war es etwas düster, da die Fenster sehr schmutzig waren. Aber als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannten sie, dass vom Vorraum vier Türen abzweigten. Hinter einer war eine große Bauernküche, hinter der nächsten eine Wohnstube und die anderen beiden Räume waren voller Dinge, aber es waren eindeutig zwei Schlafräume.
Langsam stiegen sie hinauf ins obere Geschoss. Oben fanden sie weitere vier Schlafräume und ein Badezimmer. Alles wirkte etwas ungepflegt und verkommen, aber es war nicht baufällig. Linda öffnete die Fenster und ließ frische Luft hereinströmen. Die Kinder rannten schon wieder die Treppe hinunter und schauten sich unten noch einmal um. Als Linda nach unten kam, saßen die Kinder am großen Küchentisch und hatten die Tür geöffnet, die von der Küche in den Garten führte. Das Haus war ein Traum! „Mama, hier möchte ich wohnen“, sagte Klara bestimmt. Jonas nickte. „Ich auch!“ Linda setzte sich zu den beiden an den Tisch und schwieg eine lange Weile. Wie offen konnte sie zu ihren Kindern sein? Bisher hatte sie stets gute Miene zum bösen Spiel gemacht und nie ein schlechtes Wort über Georg verloren.
Aber wenn sie hier eine Zukunft planen wollten, dann ging das nur ohne Georg. Heute war vielleicht der beste Tag um mit den Kindern darüber zu sprechen. Langsam setzte sie sich zu ihren Kindern an den Tisch. „Wollt ihr wirklich hier wohnen?“, fragte sie noch einmal nach. Jonas und Klara nickten begeistert. „Aber Papa wird hier sicher nicht wohnen wollen“, nahm Linda das Thema auf. Klara schaute etwas betreten und Jonas sagte: „Ja, vielleicht ist es genau dieser Gedanke, der die Sache so reizvoll macht. Es ist sicher nicht okay, wenn ich das sage, aber Papa ist für mich unerträglich. Er interessiert sich nicht im Geringsten für uns, sondern meckert nur dauernd herum. Wenn er zuhause ist, dreht sich alles um ihn. Er langweilt uns seit Jahren mit seinen Geschichten beim Abendessen und wir sitzen da, und hören alle brav zu. Naja, zumindest tun wir so, als würden wir zuhören. Mit geht das alles so sehr auf die Nerven, dass ich mir nichts sehnlicher wünschen würde, als dass nur wir drei hier wohnen könnten. Das wäre so ein schönes Leben.“
Jonas hatte sich richtig in Rage geredet und Linda stellte erschrocken fest, wieviel Frust und Wut sich in ihrem Sohn bereits angestaut hatte. Klara nickte. „Jonas hat Recht. Wir müssen dauernd schauen, wie wir die Zeit mit Papa so überstehen, dass wir ihm keinen Anlass zu Gemecker geben. Ich bin manchmal total neidisch auf meine Freundinnen, die zu Hause Spaß haben und deren Väter auch mal mit ihnen Quatsch machen und lustig sind. Papa behandelt uns, als ob wir seine Angestellten wären, mit deren Leistung er niemals zufrieden ist.“
Linda hörte ihren Kindern schweigend zu. Erschrocken stellte sie fest, dass die beiden die Situation sehr genau erkannt hatten und sich ebenfalls Strategien zurechtgelegt hatten, wie sie damit umgingen. Sie schwiegen alle drei. Jeder hing seinen Gedanken nach. „Denkst du manchmal darüber nach, dich von Papa scheiden zu lassen?“, fragte Jonas in die Stille. Linda sah ihren Sohn nachdenklich an. Immer noch wusste sie nicht, wie offen sie sprechen sollte. „Ja, manchmal schon“, sagte sie vorsichtig. „Auch für mich ist es oft nicht leicht, so zu leben. Ich meine, mein Leben ist auch nicht unendlich und ich würde gerne so Vieles anders machen, als ich jetzt tue, aber ich dachte immer, ich müsste Rücksicht auf euch nehmen. Ich möchte euch nicht die Familie zerstören.“
Jonas schüttelte entschieden den Kopf. „Mama, das Einzige, was du zerstören würdest, wäre das Bild der Familie, so wie Papa sich das vorstellt. Ich denke mir oft, dass es doch schrecklich ist, wenn wir an Tagen wie heute, uns freuen, dass Papa einen langen Abendtermin hat und wir endlich mal wieder machen können, was wir wollen. Der Gedanke, dass wir heute Abend gemütlich gemeinsam etwas machen, hat mich den ganzen Tag gefreut. Das ist doch auch nicht das, was man sich als Kind von seiner Familie erhofft. Sobald Papa da ist, sind wir wie Gefangene, die sich gut benehmen müssen.
Wir alle passen ständig auf, dass wir nichts Falsches sagen oder tun, damit wir ihm keinen Anlass für endlose Vorträge und Vorwürfe liefern. Ganz ehrlich, das ist nicht lustig. Die Vorstellung, dass es ein Leben geben könnte, in dem wir einfach so sein könnten wie wir sind, ist schon sehr reizvoll.“ Linda schaute ihren Sohn an. Wie erwachsen er sprach. Und wie viel er offensichtlich auch einfach aushält, um den Familienfrieden nicht zu gefährden. Das war schon erschreckend.
Linda spürte Panik in sich aufkommen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sie nach diesem Gespräch nicht mehr zurückkonnte. Jetzt, nachdem sie wusste, dass ihre Kinder das Leben zu Hause genauso einschätzten wie sei, konnte sie nicht mehr so tun, als würde sie sich das nur einbilden. Das ängstigte sie. Nervös fuhr sie mit dem Fingernagel die Maserung des Holzes nach. Dieser Küchentisch schien uralt zu sein. Ein herrliches Stück. Auch hier wurde ihr schmerzlich bewusst, wie Georg diesen Tisch einschätzen würde. Es war ein altes Stück Holz und für ihn höchstens als Brennholz interessant. Wahrscheinlich würde er ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, einfach entsorgen. Nein, Georg durfte dieses Haus auf keinen Fall in die Finger bekommen. Sie musste sowohl ihre Kinder, als auch das Haus vor ihm beschützen. An sich selbst dachte sie in diesem Moment gar nicht.
„Kinder, lasst uns noch eine Weile hier alles besichtigen. Ich muss noch etwas nachdenken. Wir sprechen nachher weiter“, sagte sie und nickte den Kindern freundlich zu. Jonas und Klara machten sich jetzt auf, um einen weiteren Rundgang zu machen. Dieses Mal würden sie sich vorstellen, wie sie hier wohnen würden. Linda nahm die Küche unter die Lupe. Es war alles sehr solide. Alle Möbel waren aus Vollholz und konnten geschliffen und geölt werden. Langsam streifte sie durch die anderen Räume.
Sie fühlte sich ein wenig wie ein Eindringling. Immerhin sah es hier so aus, als wäre ihr unbekannter Großonkel nur mal kurz zum Einkaufen gegangen. Überall war sein Leben sichtbar. Es würde ein großes Stück Arbeit werden, dieses Haus zu ihrem eigenen zu machen. Aber sie würde es schaffen. Linda hatte sich vor der Arbeit noch nie geschreckt. Hier konnte sie zeigen, was sie zu leisten bereit war. Egal wofür sie sich entscheiden würde, von Georg hatte sie keine Hilfe zu erwarten. Er würde das Haus hassen und nichts mehr forcieren, als es möglichst rasch zu verkaufen und das Geld dafür verwenden, ihr Haus am Stadtrand noch etwas luxuriöser zu machen. Dieses Haus hier hatte Seele. Das spürte Linda genau. Sie nahm etwas wahr, das sie in ihrem Haus noch nie gespürt hatte. Alles hier atmete Ruhe und Beschaulichkeit.
Und morgen geht es weiter….
Ich wünsche Euch einen wunderschönen Donnerstag
Manou