Die Erdenreise Teil 5

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Und ganz rasch war schon wieder Morgen. Luisahim und Theorahel waren noch ein wenig müde, als sie Erzengel Gabriel in der großen Halle trafen. Aber der war schon recht munter und winkte sie zu sich. Er zeigte ihnen ein Bild von der Erde und als sie die Stadt Wien erkannten, zeigte er ihnen, wo sie gestern gewesen waren. Und tatsächlich über der alten Tischlerwerkstatt war es ein klein wenig heller als in der Umgebung. „Was ist das?“, frage Theorahel. „Das ist die Freude, die Martin verspürt. Da wird es richtig hell in der Umgebung. Wir werden sehen, wie sich das bis Weihnachten entwickelt. Wir beobachten das“, sagte Gabriel. „Wo gehen wir denn heute hin?“, fragte Luisa. Gabriel zuckte die Schultern. „Der Höchste hat gesagt, ihr seid so tüchtig, ihr könnt ruhig an wirklich dunkle Orte gehen.“ Luisahim und Theorahel erschauerten. Was würde sie heute nur erwarten? „Macht euch keine Sorgen“, sagte Gabriel beruhigend. Wir haben vollstes Vertrauen in euch. Ihr werdet euch überall zurechtfinden. „Bekommen wir heute keinen Mantel und Mütze und Schal?“, fragte Theorahel. „Nein, die braucht ihr heute nicht. Da wo ihr heute hingehen werdet, ist es warm.“ Die beiden sahen sich erstaunt an. Doch Gabriel ermahnte sie zur Eile. „Kommt, wir müssen starten, ihr habt heute viel vor!“

Die beiden stellten sich wieder auf den Platz, auf dem sie immer auf den Wirbel warteten, der sie auf die Erde trug und da ging es auch schon los. Schneller als gestern drehte sich der Wirbel und sie hatten das Gefühl kräftig durchgerüttelt zu werden. Aber rasch beruhigte er sich auch wieder und sie fanden sich auf einem Platz stehend, der aus festgestampfter Erde zu bestehen schien. Die Luft auf ihren Körpern war warm und feucht. Sie sahen sich um. Es war laut- Sie hörten eine Art Surren und Geräusche von Maschinen. Aber sie sahen keinen Menschen. Um sie herum standen große, trostlos wirkende Gebäude. Obwohl es warm war, war die Sonne hinter einer Wolkendecke versteckt, was die Trostlosigkeit noch verstärkte. Luisa und Theo sahen sich an. Wo waren sie hier nur gelandet?

Sie bekamen direkt ein wenig Angst. Langsam bewegten sie sich auf die Gebäude zu. Je näher sie kamen, umso deutlicher wurden die Geräusche, aber sie hörten keine Stimmen und sahen keinen Menschen. „Hast du eine Idee, wo wir hier sind?“, fragte Luisa. Theo schüttelte den Kopf. „Nicht im Geringsten“, sagte er. Sie sahen sich genauer um. Ganz weit hinten sahen sie ein paar vereinzelte Palmen. Sie mussten irgendwo ganz im Süden sein. Natürlich, es war ja auch warm. Überall waren Pfützen und bildeten traurige kleine Seen vor den Gebäuden. „Hier gefällt es mir überhaupt nicht“, sagte Luisa und Theo nickte dazu. Nein, das war kein schöner Ort. Aber niemand hatte ihnen versprochen, dass sie an schöne Orte gesendet werden würden. Gabriel hatte ihnen ja heute gesagt, sie würden an düstere Orte geschickt werden.

Plötzlich hörte Luisa ein Geräusch. „Pssst…“, sagte sie und lauschte. Theo lauschte auch. Ja, jetzt konnte er es auch hören. Es klang wie ein ganz leises Weinen. Vorsichtig sahen sie sich um und versuchten die Richtung zu bestimmen, aus der das Geräusch kam. „Ich glaube da drüben ist es“, flüsterte Theo und zeigte auf die Ecke von einem der Gebäude. Leise schlichen sie in diese Richtung. Als sie näherkamen, sahen sie eine zarte Gestalt, die ganz zusammengekauert in Schatten saß und weinte. Es war eine Frau. Langsam gingen sie näher. Als Theo aus Versehen einen Stein wegkickte, bemerkte die Frau ihr Kommen. Schnell sprang sie auf und wollte davonlaufen. Aber Luisa rief ihr zu: „Bitte! Bleiben sie stehen! Wir möchten gerne mit ihnen sprechen!“ Die Frau wusste offensichtlich nicht so recht, was sie tun sollte. Sie blieb zwar stehen, aber war immer noch auf dem Sprung. Das war ihr deutlich anzusehen.

Als sie näherkamen, sahen sie, dass die Frau ein ganz dickes und verschwollenes Auge hatte. Es sah aus, als hätte jemand sie geschlagen. „Bitte! Warten sie auf uns. Wir kommen um zu helfen“, sagte Luisa. Die Frau blieb misstrauisch. Als sie ganz nah bei ihr waren, schien sie zu erkennen, dass weder Luisa noch Theo wirklich bedrohlich aussahen. Luisa reichte ihr die Hand, die sie vorsichtig ergriff. „Hallo, wir sind Luisa und Theo und wir halten Ausschau nach Menschen, denen wir helfen können“, sagte Luisa. Die Frau schien ebenfalls noch sehr jung zu sein. Vielleicht war sie sogar auch noch ein Mädchen. Sie war zart und trug ein farbiges Tuch um ihren Kopf. „Ich heiße Mongila“, sagte sie. „Können wir uns irgendwohin setzen“, fragte Luisa. „Wir würden uns gerne mit ihnen unterhalten. Mongila zögerte. „Eigentlich müsste ich hinein und arbeiten. Aber ich bekomme sowieso schon Ärger. Er hat mich vorhin geschlagen“, sagte sie und zeigte auf ihr geschwollenes Auge. „Wer hat sie geschlagen und was ist das hier überhaupt?“, frage Theo. Mongila blickte verwirrt. „Ihr wisst nicht, was das hier ist?“, fragte sie. „Wo kommt ihr denn her?“ „Wir kommen von sehr weit weg und nein, wir wissen nicht, was das ist“, sagte Theo. Mongila setzte sich und Theo und Luisa setzen sich zu ihr.

„Das ist eine Textilfabrik. Wir nähen hier T-Shirts und Hosen für Kunden in Europa. Wir müssen hier arbeiten, weil unsere Kinder sonst verhungern würden. Aber es ist schwer hier. Die Arbeitszeit ist vierzehn Stunden täglich und da drinnen ist es heiß und stickig. Wir bekommen nur wenig zu essen und zu trinken, sodass ständig jemand ohnmächtig wird. Aber wir dürfen uns nicht einmal darum kümmern. Wir müssen sie einfach liegen lassen. Heute ist eine alte Frau einfach umgefallen. Sie könnte meine Großmutter sein. Ich bin hingegangen und wollte ihr helfen. Da kam der Aufseher und schlug mich so sehr, dass ich auch auf dem Boden lag.“

Mongila schluchzte. Luisa und Theo warteten bis sie sich beruhigt hatte. „Ich möchte nach Hause zu meinen Kindern“, schluchzte sie noch lauter. „Wo sind deine Kinder?“, fragte Theo. „Die sind zwei Tagesmärsche von hier weg. Ich habe mich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen, damit sie nicht weinen, wenn ich gehe. Wenn ich gesehen hätte, dass sie weinen, hätte ich nicht gehen können. Aber ich musste. Wir hatten nichts mehr zu essen und das Dach unserer Hütte ist auch kaputt. Es gab nur die Wahl, wir verhungern alle, oder ich gehe hierher.“

Mongilas Schluchzen war mittlerweile so stark, dass es ihren ganzen Körper schüttelte. Luisa und Theo war auch schon zum Weinen. Wie traurig das war. „Wie alt sind denn deine Kinder?“, fragte Luisa. „Die Jüngste ist drei, dann kommt mein Sohn, der ist fünf und meine älteste Tochter ist sieben. Sie muss jetzt auf die Kleinen schauen. Ich weiß nicht, ob sie das schafft. Sie ist ja alleine auch nicht sicher. Wenn so junge Kinder alleine sind, werden sie oft auch entführt. Meine Mutter wird ab und zu nach ihnen schauen. Aber sie ist alt und krank und hat fast keine Kraft mehr. Ich habe solche Angst um meine Kinder.“

„Du musst sofort nach Hause gehen“, sagte Luisa. „Du musst nach deinen Kindern schauen!“ „Aber ich kann nicht gehen. Ich habe kein Geld. Ich habe meinen Lohn noch nicht erhalten. Und wenn ich jetzt gehe, bekomme ich auch nichts. Womit soll ich die Fahrt bezahlen und was sollen wir essen. Ich habe zuhause ein wenig Essen zurückgelassen, sodass sie nicht verhungern, bis ich meinen ersten Lohn geschickt habe. Aber sie wissen ja noch nicht einmal wo ich bin…“ Mongila brach nun vollkommen zusammen.

„Wir gehen jetzt zu dir nach Hause!“, sagte Luisa bestimmt. „Du musst nach deinen Kindern schauen. Wir werden eine Lösung finden!“ Mongila schaute Luisa an. „Aber wovon werden wir leben? Ich habe doch nur noch eine einzige andere Möglichkeit, aber an die mag ich nicht einmal denken.“ Luisa streichelte ihren Rücken. Sie ahnte, wovon Mongila sprach. „Nein, du wirst dich nicht verkaufen“, sagte sie. „Komm, wir suchen eine Möglichkeit, wie wir zu dir fahren können.“ Mongila schien ein wenig Hoffnung zu schöpfen. „Und ihr könntet mir helfen?“, fragte sie. Luisa und Theo nickten. „Ja, wir werden uns alle Mühe geben.“

„Wo wohnst du denn?“, fragte Theo. „In einem Dorf im Südwesten – in Bonnotola“, antwortete Mongila. „Wie weit ist das und wie kommt man dahin?“, fragte Theo weiter. „Ich bin zwei Tage zu Fuß gegangen. Aber mit einem Auto ist man viel schneller“, sagte Mongila.

Luisa schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Sie brauchte Geld! In dem Moment spürte sie etwas Knisterndes in ihrer Tasche. Sie fasste hinein und zog ein paar Geldscheine heraus. „Reicht das um einen Fahrer zu mieten, der uns mit dem Auto in dein Dorf bringt?“ Mongila starrte auf die Scheine in Luisas Hand. Das sind fünftausend Taka, soviel verdienen wir hier nicht einmal in zwei Monaten. Natürlich reicht das.“ „Gut, dann können wir vielleicht sogar noch Lebensmittel für deine Kinder einkaufen“, sagte Luisa und bedankte sich insgeheim bei Gabriel. Sie war sich sicher, dass er ihr das Geld geschickt hatte.

Schnell verließen sie diesen trostlosen Ort. Mongila schaute sich immer wieder um, aber niemand folgte ihnen.

„Da vorne gibt es ein Taxi und einen Laden“, sagte Mongila. Während Luisa mit dem Fahrer verhandelte, der ihr versprach, sie für eintausend Taka nach Bonnotola zu fahren, kaufte Theo mit Mongila Obst, Gemüse, Reis, Brot und Käse ein und sie verstauten die vollen Taschen im Kofferraum des Autos. Theo setzte sich nach vorne zum Fahrer. „Wie lange werden wir brauchen bis Bonnotola?“, fragte er. „Wenn die Straßen nicht überschwemmt sind und keine Bäume herumliegen, schaffen wir es in drei bis vier Stunden“, sagte dieser.

Auf der Fahrt erzählte Mongila, dass die Fabriken voll waren von Frauen wie ihr. Alle weinten ständig vor Sorge um ihre Kinder und vor Sehnsucht nach ihrem Zuhause. Aber sie hatten alle keine andere Wahl. Luisa und Theo erkannten, dass sie hier wohl eine riesengroße Aufgabe hatten und sie hatten nicht die geringste Idee, wie sie das schaffen würden. Mongila wurde immer stiller je näher sie ihrer Heimat kamen. Die Straßen waren eigentlich keine Straßen. Es waren bessere Feldwege und oft sehr holprig, sodass sie ständig in ihren Sitzen durchgerüttelt wurden.

Aber irgendwann hatten sie es geschafft. Der Fahrer fuhr im Schritttempo durch das Dorf. Überall waren Kinder auf der Straße und man sah ihnen die Entbehrung an. Luisa wurde das Herz sehr schwer, aber sie freute sich für Mongila und gleichzeitig hatte sie auch Angst. Hoffentlich ging es den Kindern gut und sie waren unversehrt. „Wie lange warst du jetzt weg?“, fragte Theo. „Fast vier Wochen“, antwortete Mongila, die aufgeregt und nervös ihre Hände knetete und suchend aus dem Fenster schaute. „Da vorne links können sie stehenbleiben. Dort ist meine Hütte.“ Kaum hatten sie die Wagentür geöffnet und Mongila war ausgestiegen, hörten sie schon ein lautes Rufen: „Mama! Mamaaaaa!“ riefen drei Kinderstimmen im Chor. Mongila ging auf die Knie und nahm ihre Kinder in den Arm.

Luisa bezahlte den Fahrer und Theo trug die Taschen zum Haus. Sie wollten Mongila und ihren Kindern Zeit geben, sich zu begrüßen. Die Kinder wurden von Schluchzern nur so geschüttelt und redeten alle drei gleichzeitig auf sie ein. Mongila schaute kurz auf. „Wie kann ich euch nur danken?“, fragte sie. „Du brauchst uns nicht danken. Wir kommen morgen wieder und dann sprechen wir darüber, was wir tun können um dir und den anderen Frauen zu helfen. Genieße den Abend mit deinen Kindern.“

Luisa und Theo schauten noch einmal zurück, wie Mongila die Jüngste auf die Hüfte setzte und wie das kleine Mädchen das Gesicht in den Haaren ihrer Mama vergrub. Auch der kleine Junge versuchte so eng wie möglich an Mongila heranzukuscheln und die Große ergriff ihre Hand und zog sie zur Hütte. Auch Mongila drehte sich noch einmal um und das erste Mal sahen Luisa und Theo wie sie lächelte.

„Wie kommen wir jetzt eigentlich zurück?“, frage Luisa. Theo zuckte mit den Schultern. „Ich denke, sie werden uns finden. Wir gehen einfach irgendwohin, wo uns niemand sieht. Gesagt, getan und schon setzte der Wirbel wieder ein und sie befanden sich in der großen Halle, wo Gabriel sie schon in Empfang nahm. „Danke für das Geld“, sagte Luisa sofort. Gabriel lächelte. „Ihr wart unglaublich tüchtig. Ich bin stolz auf euch“, sagte er noch, bevor er sie ins Bett schickte.

Morgen geht es weiter und wir werden sehen, welchen Plan die beiden mit Mongila morgen aushecken werden.

Ich wünsche Euch allen eine gute Nacht und schlaft schön!

Manou

Bild von Yuri_B auf Pixabay

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