Am nächsten Morgen standen Theorahel und Luisahim wieder pünktlich bei ihrem Treffpunkt in der Engel-Welt. Sie mussten etwas warten, da Gabriel noch nicht da war. Heute war die Aufregung auch nicht mehr ganz so groß, da sie bereits ein wenig wussten, was sie erwartete. Gabriel kam heute nicht alleine, sondern er war in Gesellschaft zweier anderer Erzengel – Michael und Phanuel.
Michael hatte ein paar Gegenstände in den Händen. „Was ist das alles?“, fragte Theorahel. Das sind Dinge, die ihr brauchen könnt auf der Erde. Er übergab Luisahim etwas, das aussah wie ein Tennisball. „Wenn du das in deiner Tasche zusammendrückst, kannst du Menschen einen Wunsch erfüllen. Aber ihr dürft diesen Ball in der ganzen Zeit nur sieben Mal verwenden.“ Die beiden Jung-Engel nickten und betrachteten das seltsame Objekt. „Und das hier ist etwas, das aussieht wie ein Fernrohr. Es ist auch eine Art Fernrohr, aber es schaut nicht in den Raum, sondern in die Zeit. Aber du darfst dich nicht davon leiten lassen. Denn es zeigt dir nur das, was geschehen wird, wenn alles genau so weitergeht, wie es gerade ist. Sobald etwas Unvorhergesehenes passiert, stimmt es nicht mehr. Das bedeutet, benutze es nur, wenn du dir absolut sicher bist, dass alle Beteiligten sich an die Abmachungen halten. Ansonsten führt es dich in die Irre. Dann läufst du einem Trugbild hinterher“, sagte Michael.
Luisahim nickte und gab das Fernrohr Theorahel und steckte selbst den Ball ein. Phanuel schaute die beiden streng an. „Ihr müsst Menschen finden, die bereit sind für sich und die anderen Menschen etwas zu tun. Ihr braucht so etwas wie unsere Vertreter auf der Erde.“ Luisahim und Theorahel nickten erneut. Sie würden sich Mühe geben. „Aber zuerst müssen wir noch einmal zu Martin, wir haben es ihm gestern versprochen“, sagte Theorahel. „Aber womit können wir ihm helfen?“ Phanuel wiegte den Kopf hin und her. „Die Menschen müssen lernen, sich selbst zu helfen. Das ist das allerwichtigste. Wenn ihr merkt, dass er dazu nicht bereit ist, müsst ihr jemand anderen suchen.“ Luisahim wurde das Herz schwer. Sie hatte insgeheim gehofft, dass die Erzengel ihnen heute Geld mitgeben würden, damit sie Martin etwas zu essen kaufen konnten. Aber offensichtlich war das nicht der Plan. Michael, der ihre Gedanken gelesen hatte, sagte: „Ich weiß, das ist schwer. Aber die Menschen haben nicht mehr so viel Zeit. Ihre Welt ist bedroht und der große Plan sieht vor, dass wir nur denen helfen können, die bereit sind, sich und den anderen Menschen zu helfen.”
“Ich weiß, das klingt hart, aber so ist es nun einmal. Es ist eine große Aufgabe für zwei so junge Engel wie ihr es seid. Deshalb war ich auch anfangs nicht glücklich mit dieser Entscheidung, aber wenn der Höchste der Meinung ist, dass es richtig ist, bin ich es auch. Er weiß, was er tut.“ „So, nun ist es Zeit für die beiden zu gehen. Hier sind noch Mütze, Schal und Handschuhe. Die werdet ihr heute brauchen. Es ist sehr kalt auf der Erde“, sagte Gabriel und reichte den beiden ein wolliges Paket. In diesem Moment setzte auch schon wieder der bekannte Wirbel ein und wenige Augenblicke später standen die beiden auf dem Stephansplatz. Gabriel hatte recht gehabt, es war wirklich noch viel kälter als gestern und vor allen Dingen ging ein schrecklicher Wind. Schnell banden sie den Schal um, setzen die Mütze auf, zogen die Handschuhe an und eilten so rasch sie konnten zu dem Hauseingang, an dem sie gestern Martin getroffen hatten. Doch der Hauseingang war leer. Kein Martin weit und breit.
Verzweifelt sahen sich die beiden an und kauerten sich selbst in den Hauseingang, der zumindest etwas Schutz vor dem Wind bot. „Was machen wir jetzt?“, fragte Theo. Sie hatten sich schon daran gewöhnt, dass sie auf der Erde die irdischen Namen trugen. „Ich weiß es nicht. Mir ist schrecklich kalt und ich wünschte, wir hätten diesen Auftrag nicht bekommen. Wir müssen wieder viele Stunden hier unten bleiben und ich habe nicht die geringste Ahnung, was wir jetzt machen können, wenn Martin nicht kommt“, sagte Luisa. In diesem Moment bog Martin um die Ecke. An einer Leine führte er einen großen Hund mit sich. Als er die beiden sah, lächelte er. „Was macht ihr denn schon wieder hier?“, fragte er. „Wir hatten doch gesagt, dass wir wiederkommen“, sagte Theo. Martin lächelte noch einmal. „Ja, das habt ihr. Aber ich habe schon lange nicht mehr erlebt, dass jemand sein Versprechen gehalten hat“, sagte er und breitete seinen Karton im Hauseingang aus.
Gemeinsam setzten sie sich und Luisa und Theo streichelten vorsichtig den Hund. „Woher hast du ihn?“, fragte Luisa. „Ach, das ist wirklich eine traurige Geschichte“, sagte Martin. „Er gehört einem anderen Obdachlosen, der heute Nacht verprügelt wurde und nun ist er im Krankenhaus und ich passe solange auf den Hund auf.“ „Er wurde auch in der Nacht verprügelt?“, fragte Theo ungläubig. Er erinnerte sich dunkel daran, dass er, als er seine Arbeit in der Engel-Welt gemacht hatte, immer wieder Bitten von Menschen ohne Wohnung erhalten hatte, dass sie in der Nacht sicher sein mögen. Aber er hatte eher geglaubt, dass man ihnen vielleicht etwas stehlen würde. „Ja, das Gute daran ist, dass er ein wenig im Warmen sein kann und die Möglichkeit hat, sich zu waschen und ein paar Nächte gut zu schlafen. Es ist schwer gut zu schlafen, wenn man so schutzlos irgendwo liegt. Deshalb haben viele von uns einen Hund. Ich hätte auch gerne einen, aber man muss im Tierheim nachweisen, dass man eine Wohnung hat und außerdem muss man auch dort viel Geld bezahlen, um einen Hund zu bekommen. Der beschützt einen nicht nur, sondern er hält auch warm. Gerade wenn es regnet und alles nass und kalt ist, ist ein Hund die einzige Möglichkeit, sich warm zu halten. Aber was erzähle ich euch da, das wird euch alles gar nicht interessieren.“
Martin streichelte ebenfalls den Hund und starrte geradeaus. Luisa und Theo sahen, dass sich Tränen in seinen Augen sammelten. „Was wäre dein größter Traum?“, fragte Luisa und sah Martin dabei an. Martin zuckte mit den Schultern. „Warum sollte ich über Träume nachdenken, wenn sie ja doch niemals in Erfüllung gehen. Ich werde hier auf der Straße alt werden und irgendwann an Kälte oder sonst etwas sterben. Für mich gibt es keine Träume mehr.“ Luisa schüttelte den Kopf. „Sag doch so etwas nicht. Man kann immer träumen und manchmal gehen Träume sogar in Erfüllung.“ Martin streichelte weiter das flauschige Fell des Hundes, seine Tränen tropften in seinen Bart. Auch Theo und Luisa kämpften mit den Tränen. Sie fühlten das schwere Herz des Mannes und es drückte ihres ebenfalls fest zusammen.
Martin schwieg eine lange Zeit. Dann begann er zu sprechen: „Lange habe ich davon geträumt, dass ich einen Platz finde, an dem ich so kleine Wagen für Obdachlose bauen kann. In meinem ersten Beruf war ich Handwerker und ich war einmal sehr geschickt. Und ich dachte mir, da ich am besten weiß, was man für das Leben auf der Straße braucht, wüsste ich genau, wie ich das bauen könnte. Aber mittlerweile habe ich diese Hoffnung auch aufgegeben. Ich hatte mir ein paar Menschen darüber gesprochen, aber niemand versteht, warum man obdachlosen Menschen helfen sollte. Wir sind sowas wie der Abschaum der Gesellschaft. Nicht einmal wert, dass man uns anschaut, wenn man uns ein paar Münzen gibt. Warum sollten wir einen Platz haben, an dem wir warm uns sicher schlafen könnten?“ Martin schwieg wieder. „Aber denkst du, du könntest so etwas bauen. Wie sollte das denn aussehen?“, fragte Theo, den diese Idee begeisterte. Das ist ganz einfach. Wir brauchen etwas, das wir mit uns herumziehen können und worin wir schlafen können, ohne dass wir verletzt werden. Wo wir geschützt sind von Wind und Regen und wo wir es ein wenig warm haben und unsere wenigen Dinge darin aufbewahren können. Die meisten Menschen auf der Straße können nicht mehr zurück in ein normales Leben und trotzdem haben wir den Wunsch nach Sicherheit und Wärme. Deshalb wäre es am einfachsten so kleine Wagen zu bauen, die gerade groß genug sind um darin zu schlafen und die wir wie Handkarren hinter uns herziehen können.“
„Wow, was für eine schöne Idee“, sagte Luisa. „Und könntest du so etwas bauen?“ Martin lachte wieder sein raues Lachen „Grundsätzlich könnte ich das, aber dazu braucht man Werkzeug und natürlich eine Werkstatt und Material.“ Luisa und Theo sahen sich verschwörerisch an. Sollten sie es wagen? „Wenn es eine Möglichkeit gäbe, das zu tun, wärst du dann bereit, das auch für andere Obdachlose zu bauen?“, fragte Luisa vorsichtig. Martin sah sie etwas zweifelnd an. „Warum fragst du das? Ihr seid irgendwie seltsam. Gestern hatte ich auch schon das Gefühl, dass mit euch etwas nicht stimmt.“ „Ich frage das, weil mich das interessiert“, antwortete Luisa ausweichend. „Es ist eine dumme Frage. Natürlich würde ich das auch für andere Obdachlose machen. Ich würde alles lieber machen, als hier zu sitzen und zu warten, dass jemand Geld in meine Büchse schmeißt. Aber ich habe dir ja schon gesagt, dass es vollkommen unmöglich ist, weil ich nicht einmal genug Geld für das Essen erbetteln kann. Wie soll ich dann zu Geld für Werkstatt und Werkzeug kommen.“ Theo und Luisa bemerkten, dass Martin keine Lust mehr hatte, weiter über diesen Traum zu sprechen. Es schien ihm weh zu tun über Dinge nachzudenken, die ihm unmöglich erschienen.
Theo und Luisa schauten sich eine Weile an und Theo wusste, was Luisa dachte und umgekehrt. Sie fragten sich, ob das jetzt so ein Moment war, wo Luisa den Ball zusammendrücken sollte. Martin bemerkte ihre Blicke, sagte aber nichts. Er hatte sich damit abgefunden, dass die beiden ihm nicht geheuer waren. In dem Moment drückte Luisa den Ball. Aber nichts geschah. Sie hatte gedacht, dass irgendetwas geschehen würde, sobald sie den Ball drückte. Aber alles war wie zuvor. Vielleicht funktionierte er ja gar nicht?
Luisa und Theo waren bitter enttäuscht. Am liebsten hätte Luisa den Ball weggeworfen, so wütend war sie. Martin stellte seine Büchse auf. „Wollt ihr jetzt eigentlich heute wieder den ganzen Tag hier sitzen?“, fragte er. Luisa und Theo zuckten die Schultern. Sie waren jetzt, wo der Ball scheinbar nicht funktioniert hatte, vollkommen ratlos. Ja, was sollten sie hier eigentlich noch machen?
In dem Moment öffnete sich die Tür an die sie alle lehnten. Martin wäre fast nach hinten gekippt. Erschrocken sprangen sie auf. „Entschuldigung“, sagte Martin. „Es ist in all der Zeit das erste Mal, dass diese Tür geöffnet wird. Und ich sitze schon lange hier.“ Im Türrahmen stand eine gebeugte kleine Frau und starrte die drei aus trüben Augen an. „Und ich beobachte sie schon eine ganze Weile. Zuerst waren sie alleine, aber jetzt sind sie zu dritt und ich habe mir gedacht, ich würde sie dafür bezahlen, wenn sie da hinten etwas ausräumen könnten.“ Martin nickte sofort. „Ja sicher. Das würde ich gerne tun. Was ist mit euch?“, fragte er Luisa und Theo. Die beiden nickten und zu dritt mit Hund folgten sie der alten Frau.
Und was die drei nun vorfinden, werdet ihr morgen Abend erfahren.
Ich wünsche Euch eine gute Nacht! Schlaft schön!
Manou Gardner aka Manuela Pusker