Dies ist eine Geschichte, die so oder so ähnlich stattgefunden hat. Wem sie passiert ist, weiß ich nicht mehr. Aber sie könnte jedem von uns passieren.

Der Weihnachtsmarkt

Ich ging an diesem zweiten Advent über den Weihnachtsmarkt einer wunderschönen beleuchteten Stadt. Das Wetter war neblig und trübe, doch die Lichter und Düfte des Weihnachtsmarktes ließen weihnachtliche Stimmung erahnen. Leider schaffte es diese Stimmung nicht bis zu meinem Herzen. An diesem Tag war tiefe Betrübnis in mir, da es der zweite Todestag meiner Eltern war, die heute vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Seither lebte ich alleine mit meinen beiden jüngeren Brüdern. Die Fürsorge hatte erlaubt, dass die beiden bei mir blieben, da ich bereits volljährig war und auch einer geregelten Arbeit nachging. Doch das Geld war immer knapp.

Wir waren gerade erst umgezogen

Die Wohnung, in der wir mit unseren Eltern gelebt hatten, war längst zu teuer für uns gewesen. Doch sie atmete noch lange die Anwesenheit unserer Eltern, auch wenn dieses Gefühl immer mehr nachließ. Anfangs hingen sogar noch die Jacken von unserer Mutter und unserem Vater an der Garderobe, die Bettwäsche, in der sie geschlafen hatten, ließen wir sehr lange auf ihren Betten. Oft legten wir uns hinein und suchten ihren Duft. Doch nach und nach mussten wir dies alles entfernen, um in der Gegenwart weiterleben zu können. Und vor vier Wochen hatten wir endlich eine kleinere Wohnung gefunden, die wir uns besser leisten konnten. Leider hatten uns unsere Eltern kein nennenswertes Erbe hinterlassen. Sie hatten ja nicht damit gerechnet, dass sie so früh sterben würden. Nachdem ich die Kosten für die Beerdigung bezahlt hatte, war nichts mehr da. Ganz im Gegenteil. Ich musste einen kleinen Kredit aufnehmen, um die letzten Rechnungen zu bezahlen. ´

Ich hielt Ausschau nach meinen Brüdern

Ich schaute mich um. Die beiden waren bereits vorausgelaufen, um ganz hinten bei den Ständen mit Bratwürsten und anderen duftenden Sachen mit leuchtenden Augen zu schauen. Sie wussten nicht, dass ich mir das Geld, das ich heute für sie ausgeben würde, vom Mund absparen musste. Sie sollten es auch nicht wissen. Es war bald Weihnachten. Sie hatten ein Recht darauf, in dem Gefühl zu leben, dass auch sie davon nicht ausgeschlossen waren.

Die Suche nach einem Weihnachtsbaum

Da ich nicht mehr viel Geld hatte, hoffte ich inständig, dass ich heute einen günstigen Baum erstehen konnte. Vielleicht einen, den niemand mehr wollte, weil er klein und schief war. Das war mir egal. Wichtig war nur, dass die beiden auch einen Weihnachtsbaum hatten. Seit Tagen hielt ich Ausschau nach so einem Baum, doch bisher hatte ich keinen gefunden, den ich mir leisten konnte. Ein wenig ängstlich ging ich deshalb zu dem abgetrennten Bereich, worin die Weihnachtsbäume verkauft wurden.

Der Verkäufer wirkte mürrisch

Der Verkäufer wirkte mürrisch und viele Menschen drängten sich dort, um prachtvolle Bäume zu erstehen. Manche von ihnen kauften drei Meter hohe Tannen, die wahrscheinlich bald in prächtigen Häusern stehen würden. Uns würde ein kleiner Baum für unsere kleine bescheidene Wohnung reichen. Ich schaute in alle Ecken. Lehnte da vielleicht irgendwo ein kleines mickriges Bäumchen? Doch außer großen, prachtvollen Bäumen war nichts zu sehen. Langsam verließ mich der Mut. Es war auch nicht möglich, den Verkäufer anzusprechen, ohne dass mindestens fünf andere Menschen mithörten. Eine Weile stand ich nur herum und beneidete die Menschen, die einfach einen Hunderter zückten, um einen Baum zu kaufen.

Ich zog unverrichteter Dinge ab

Ich hatte an diesem Tag wieder nicht den Mut, nach einem kleinen Baum zu fragen. Die Armut war mir peinlich. Es war alles düster, wenn man gar kein Geld hatte.Ich fühlte mich als Versager und Feigling. Doch noch schlimmer erschien mir die Vorstellung, mir schon wieder eine Abfuhr einzuhandeln. Und dies vor all den Menschen, die ohne mit der Wimper zu zucken die schönsten Bäume auswählten. Zumindest wollte ich noch meinen Brüdern ihre heißgeliebte Bratwurst kaufen. Ich selbst würde nichts nehmen. Von dem Geld für eine Bratwurst konnte ich uns einen ganzen Tag ernähren. Ich hatte gelernt, äußerst sparsam zu wirtschaften. Danach gingen wir nach Hause. Ich fühlte mich schlecht, sehr schlecht.

Das Treppenhaus war düster

Das Treppenhaus war schrecklich düster. Nur eine schale Lampe brannte an jedem Treppenabsatz. Es war nicht leicht, sich hier zuhause zu fühlen. Das ganze Haus strahlte Armut und Kälte aus. Rasch zogen wir uns aus und gingen ins Bett, obwohl es noch früh war. Doch im Bett war es mindestens warm. Die beiden Jungs hatten es sich angewöhnt, bei mir im großen Bett zu schlafen. Auch wenn sie versuchten tapfer zu sein, so vermissten sie unsere Eltern schrecklich und oft genug hörte ich sie leise weinen. Wir lagen noch wach und schauten in die Dunkelheit. Ich zermarterte mir den Kopf, wie ich es bewerkstelligen sollte, dass ich noch einen Baum bekam und für die Jungs zumindest ein kleines Weihnachtsgeschenk.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch an der Tür

Plötzlich hörte ich ein Schaben und Kratzen an der Tür. Mir gefror das Blut in den Adern. Auch die Jungs hatten das Geräusch gehört. Alle drei hielten wir den Atem an. Doch nach kurzer Zeit war wieder alles still. Aber es war ganz gewiss jemand an der Tür gewesen. Ich überlegte, ob ich nachschauen sollte, doch ich hatte schreckliche Angst. Trotzdem schliefen wir irgendwann ein.

Der Wecker läutete um sechs Uhr

Um sechs Uhr läutete der Wecker. Ich musste Pausenbrote für die Jungs vorbereiten und sie wecken, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit machte. Den gestrigen Schreck hatte ich beinahe vergessen, doch plötzlich fielen mir die Geräusche wieder ein. Jetzt am Morgen erschien es mir auch nicht mehr so bedrohlich.

Ich ging zur Tür

Ich ging zur Tür und erwartete Einbruchsspuren zu sehen. Und als ich die Tür öffnete, fiel mir auch sofort etwas Schweres entgegen. Ich schrie so laut, dass die Jungs aufwachten und in den Flur gelaufen kamen. Sie entdeckten schneller als ich, was mich angefallen hatte. Es war ein riesiger Weihnachtsbaum! Und neben dem Baum standen Körbe mit den feinsten Leckereien, die man sich nur vorstellen konnte. Auf einem der Körbe lag ein Umschlag, der an uns adressiert war.

Die Freude war riesig

In dem Umschlag steckte eine wunderschöne Weihnachtskarte. Als ich sie öffnete fielen mir mehrere Geldscheine entgegen. Und im Inneren der Karte stand: „Liebe Grüße von Mama und Papa – Frohe Weihnachten!“ Sprachlos starrten wir auf die Berge von Lebensmitteln und den wunderschönen großen Baum. Nun stand Weihnachten nichts mehr im Wege. Ob wirklich unsere Eltern dieses Weihnachtswunder für uns geschaffen hatten, oder ob es eine wohltätige Seele war – wir sollten es nie erfahren. Doch seit Langem fühlten wir uns wieder einmal behütet und beschützt.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

2 Kommentare zu „Ein wundersamer zweiter Advent

  1. Liebe Manou, wieder ein Erlebnis, dass mir die Tränen in die Augen trieb. Was für eine wunderschöne berührende Geschichte.
    Als ich 13 Jahre war starb meine Mutter(mit 10 Jahre mein Vater). Damals wollte ich mit meinem kleinen Bruder weiter in der Wohnung leben und für ihn sorgen, aber da ich zu jung war mussten wir in ein Kinderheim.

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